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Der Kreuzfahrer

Der Kreuzfahrer

Titel: Der Kreuzfahrer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Angus Donald
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gelehnt und betrachteten die Sterne. Ich dachte an Ruth, ihre Hand an meinem Gesicht, ihren Gang und mein idiotisches Versprechen, sie zu beschützen. Unten im Turm konnte ich ernsten, feierlichen Gesang hören. Die Juden begingen ihr Pessach-Fest und bereiteten sich auf das haarsträubende, undenkbare Blutvergießen vor. Die Vorstellung, wie dieser ehrwürdige Rabbi mit dem gütigen Gesicht seiner Familie die Kehlen aufschlitzte, wie das unschuldige Blut hervorschoss und den dunklen Ärmel durchtränkte, während seine geliebte Frau oder sein Kind in seinen Armen zusammensank … Es war unerträglich. Das Singen unten hörte auf. Lange herrschte Stille. Ich hörte nur den fernen Lärm der Soldaten unten im Burghof und an den Wachfeuern um den Turm, wie sie scherzten und schimpften. Von der Tragödie, die sich nur fünfzig Schritt von ihnen entfernt anbahnte, ahnten sie nichts. Ich lauschte dem rauhen Chor ihrer Stimmen und dem fernen Ruf einer Eule. Mir standen die Haare zu Berge, als ich den ersten gequälten Schrei vernahm. Es war ein langgezogenes, klagendes Heulen, erst aus einer Kehle, und wenige Augenblicke später fielen zahlreiche Stimmen ein: ein Chor der Verdammten, die in unerträglichem Leid ertranken.
    Ich hielt es nicht länger aus. Ich rappelte mich hoch und bahnte mir einen Weg zur Treppe über die halb zertrümmerte Plattform, übersät mit niedergelegten Waffen, nicht mehr benötigter Kleidung und Holzsplittern. »Alan«, rief Robin mit scharfer Stimme. »Alan, geh nicht dort hinunter …« Doch ich ignorierte meinen Herrn und begann mit schweren, widerstrebenden Beinen, dem bleischweren Gang eines verdammten Mannes, meinen Abstieg in das menschliche Schlachthaus.
    Ich habe so einiges gesehen, vielleicht mehr Grauen, als eine Seele auf ihrer Reise durch diese Welt sehen dürfte, doch kaum jemals etwas derart Herzzerreißendes. Selbst heute noch, da ich so verlebt, sarkastisch und uralt bin und sicher und behaglich auf Westbury sitze, kann ich mich kaum überwinden, mich im Geiste in jenen Turm zurückzuversetzen.
    Doch ich werde es versuchen: Das bin ich Ruth schuldig. Und diese Schuld muss ich begleichen.
    Nach dem Lärm, dem unmenschlichen Geheul unaussprechlicher Trauer, traf mich als Erstes der Geruch. Noch ehe ich um die letzte Ecke der Treppe bog, konnte ich das Blut riechen, stählern, warm, widerlich süß und erstickend. Ich warf einen Blick hinab in die rechteckige Halle und sah, dass der Boden aus gestampfter Erde buchstäblich in Blut schwamm – ein schimmernder, scharlachroter See. Und in diesem Teich lagen Leichen, Dutzende und Aberdutzende von Leichen, zusammengerollt wie kleine Kinder, Finger oder ganze Hände meist um die klaffende Kehle geklammert, als wollten sie das flüssige Leben zurückhalten, das ihr Haar durchtränkte und um ihre weißen Gesichter mit den starren, leeren Augen schimmerte. Einige Männer standen noch. Manche wirkten wie betäubt vor Entsetzen über das, was sie getan hatten. Andere knieten mit rot geweinten Augen auf dem Boden und streichelten das rotbespritzte Gesicht einer geliebten Frau oder eines Kindes. Und in der Mitte des Raumes stand Reuben mit wildem, aber in seinem Wahn dennoch konzentrierten Blick, den linken Arm um seine Tochter geschlungen, um meine süße Ruth. In seiner rechten Faust glänzte eine schmale Klinge.
    Ich schrie »Nein!«, stürmte los und rutschte und schlitterte auf dem von Blut glitschigen Boden. Reuben sah mich und zögerte, und dann hatte ich ihn erreicht und packte seinen rechten Arm mit beiden Händen. Er war schrecklich stark, doch Ruth sah mich mit riesigen, angstvoll geweiteten Augen an, und ich schaffte es, seinen Arm wegzuziehen. Sie wankte, sank an mich, und ich schlang die Arme um sie, so dass ihr verweintes Gesicht an meiner Brust ruhte. Ich drückte sie fest an mein Kettenhemd, während sie schluchzte, und starrte voller Hass in Reubens erschöpftes, halb dankbares, blassgraues Gesicht.
    Dann war Robin da. Er legte die Hände auf Reubens Schultern und blickte dem Juden mit funkelnden Augen ins Gesicht. »Wir hatten eine Abmachung«, fauchte er. »Wir waren uns einig. Du gehst mit mir da hinaus. Dein Leben liegt in meinen Händen. Ich werde dich retten, darauf habe ich dir mein Ehrenwort gegeben.« Er versetzte Reuben eine schallende Ohrfeige, die ihm den Kopf herumriss. Robins gewohnte, kühle Gelassenheit schien ihn erneut verlassen zu haben.
    Reuben schüttelte den Kopf, um sich von dem Schlag ins Gesicht zu

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