Der Krieg am Ende der Welt
Tages werde er der Oscar Wilde Brasiliens sein.
»Also gut«, sagte er, »Sie können zurück an den Diário de Bahia . Sie waren schließlich kein schlechter Redakteur.« Der kurzsichtige Journalist nahm die Brille ab und schüttelte mehrmals den Kopf, bleich, unfähig, auf andere Weise zu danken.
Was liegt daran, dachte der Baron. Tue ich es etwa für ihn oder den Zwerg? Ich tue es für das Chamäleon. Er sah durchs Fenster, suchte es und fühlte sich betrogen: es war nicht mehr da oder es hatte sich, in dem Gefühl, beobachtet zu werden, vollständig in die Farben seiner Umgebung verkleidet.»Er ist ein Mensch, der panische Angst vor dem Tod hat«, murmelte der kurzsichtige Journalist und setzte sich die Brille wieder auf. »Nicht aus Liebe zum Leben, wissen Sie. Sein Leben ist immer grauenhaft gewesen. Als Kind wurde er an einen Zigeuner verkauft, als Zirkuskuriosität, als öffentliches Monstrum. Aber seine Angst vor dem Tod ist so groß, so phantastisch, daß er durch sie überlebt hat. Und ich auch, nebenbei ...«
Auf einmal bereute der Baron, daß er ihm Arbeit gegeben hatte, denn dadurch entstand so etwas wie eine Verbindung zwischen ihm und diesem Subjekt. Und er wollte keine Verbindung mit einem Menschen haben, der so sehr mit der Erinnerung an Canudos verknüpft war. Doch statt dem Besucher zu bedeuten, das Gespräch sei beendet, sagte er, ohne zu überlegen:
»Sie müssen schreckliche Dinge gesehen haben.« Er räusperte sich, ärgerlich, dieser Neugier nachgegeben zu haben, und fügte dennoch hinzu: »In Canudos.«
»In Wirklichkeit habe ich gar nichts gesehen«, antwortete das Klappergestell, das zusammenknickte und sich wieder aufrichtete. »Am Tag der Niederlage des Siebten Regiments ist meine Brille zerbrochen. Vier Monate habe ich dort unten nur Schatten gesehen, formlose Gestalten, Schemen.«
Seine Stimme klang so ironisch, daß sich der Baron fragte, ob er es sagte, um ihn zu reizen oder weil dies seine unverstellte antipathische Art war, ihn wissen zu lassen, daß er darüber nicht zu sprechen wünsche.
»Ich weiß nicht, warum Sie nicht lachen«, hörte er ihn mit verstärkt provozierendem Unterton sagen. »Alle lachen, wenn ich sage, daß ich nicht gesehen habe, was in Canudos passiert ist, weil meine Brille kaputtgegangen ist. Natürlich ist das komisch.«
»Ja, sicher«, sagte der Baron, aufstehend. »Aber das Thema interessiert mich nicht. Also ...«
»Aber auch wenn ich nichts gesehen habe, ich habe gefühlt, gehört, mit Händen gegriffen, was dort geschehen ist. Und den Rest habe ich mir zusammengereimt.«
Der Baron sah ihn abermals lachen und ihm diesmal mit einer Art Verschlagenheit unerschrocken in die Augen blicken. Er setzte sich wieder.»Sind Sie wirklich nur gekommen, mich um Arbeit zu bitten und mir von diesem Zwerg zu erzählen?« sagte er. »Gibt es ihn überhaupt, diesen tuberkulösen Zwerg?«
»Er spuckt Blut, und ich will ihm helfen«, sagte der Besucher.
»Aber ich bin auch aus einem anderen Grund gekommen.«
Er senkte den Kopf, und der Baron, der sein zerzaustes, weiß gesträhntes, schuppiges Haar betrachtete, stellte sich den Blick der wäßrigen Augen vor, die zu Boden sahen. Er hatte die phantastische Vermutung, der Besucher bringe ihm eine Botschaft von Galileo Gall.
»Canudos wird vergessen«, sagte der kurzsichtige Journalist mit einer Stimme, die sich wie ein Echo anhörte. »Die letzten Erinnerungen an die Ereignisse werden im Äthersprühen und der Musik des bevorstehenden Karnevals untergehen.«
»Canudos«, murmelte der Baron. »Epaminondas hat recht, wenn er will, daß über diese Geschichte nicht mehr gesprochen wird. Vergessen wir sie, es ist besser. Es ist eine triste, trübe, wirre Episode. Sie bewirkt nichts. Geschichte muß instruktiv sein, exemplarisch. In diesem Krieg hat sich niemand mit Ruhm bedeckt. Und niemand begreift, was eigentlich geschehen ist. Die Leute haben beschlossen, den Vorhang darüber fallen zu lassen. Das ist klug, heilsam.«
»Ich werde nicht zulassen, daß es vergessen wird«, sagte der Journalist, ihm mit der zweifelhaften Starrheit seines Blicks in die Augen sehend. »Das habe ich mir gelobt.«
Der Baron lächelte. Nicht über die plötzliche Feierlichkeit des Besuchers, sondern weil eben hinter dem Schreibtisch und dem Vorhang das Chamäleon im glänzenden Grün des Grases unter den knorrigen Ästen der Pitangueira wieder sichtbar geworden war. Langgestreckt, regungslos, grünlich, mit seiner Orographie spitzer
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