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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Weshalb gingen sie fort, statt heraufzukommen und die Überlebenden zu töten?
    Als der Sergeant Frutuoso Medrado – Erste Kompanie, Zwölftes Bataillon – eine Trompete zum Rückzug blasen hört, glaubt er verrückt zu werden. Bei diesem Angriff mit gezogenem Bajonett auf die Westhänge von Cocorobó, dem fünften an diesem Tag, steht seine Gruppe Jäger an der Spitze der Kompanie und die Kompanie an der Spitze des Bataillons. Daß ihnen jetzt der Rückzug befohlen wird, nachdem sie drei Viertel des Abhangs besetzt halten und mit Bajonett und Säbel die Engländer aus den Schlupflöchern geholt haben, von denen aus diese die Patrioten dezimiert haben, das will dem Sergeanten Frutuoso Medrado nicht in den Schädel, obwohl der groß ist. Aber kein Zweifel: jetzt blasen schon viele Trompeten zum Rückzug. Seine elf auf den Boden gekauerten Männer schauen ihn an, und durch den Staub hindurch sieht der Sergeant Medrado, daß sie genauso überrascht sind wie er. Hat das Kommando den Verstand verloren? Sie jetzt um den Sieg zubringen, wo nur noch die Höhen zu säubern sind! Die Engländer sind nicht viele und haben kaum mehr Munition; dort oben sieht der Sergeant Medrado die letzten, die der anbrandenden Flut der Soldaten entkommen sind, und er sieht, daß sie nicht schießen: sie fuchteln, zeigen Jagdmesser und Macheten, werfen Steine. Ich habe meinen Engländer noch nicht getötet, denkt Frutuoso.
    »Befehl zum Rückzug! Worauf wartet die Erste Jägergruppe?« schreit der Kompanieführer, Hauptmann Almeida, der plötzlich neben ihm auftaucht.
    »Erste Jägergruppe, Rückzug!« brüllt der Sergeant auf der Stelle, und seine elf Männer stürmen bergab. Er selbst beeilt sich nicht, er geht im gleichen Schritt wie Hauptmann Almeida.
    »Der Befehl kommt so überraschend, Exzellenz«, murmelt er, an die linke Seite des Offiziers wechselnd. »Ein Rückzug, jetzt! Wer kann das begreifen?«
    »Unsere Pflicht ist nicht, zu begreifen, sondern zu gehorchen«, knurrt Hauptmann Almeida, der auf den Böschungen seinen Säbel als Stock benutzt. Doch etwas später fügt er, ohne seinen Zorn zu verbergen, hinzu:
    »Ich begreife es auch nicht. Wir hätten sie nur noch erledigen müssen, es wäre ein Kinderspiel gewesen.« Einer der Nachteile des Soldatenlebens, das ihm so sehr gefällt, denkt Frutuoso Medrado, ist das Rätselhafte mancher Entscheidungen der Oberen. Er hat an den fünf Angriffen auf die Hänge von Cocorobó teilgenommen und ist doch nicht müde. Sechs Stunden hat er gekämpft, seit dem frühen Morgen, als sein Bataillon, das als Vorhut der Kolonne ging, sich am Eingang des Hohlwegs plötzlich ins Kreuzfeuer genommen sah. Beim ersten Angriff ging der Sergeant hinter der Dritten Kompanie und sah, wie die Jägergruppen unter Fähnrich Sepúlveda von Gewehrgarben niedergemäht wurden, von denen niemand wußte, woher sie kamen. Beim zweiten Angriff waren die Verluste ebenfalls so hoch, daß man sich zurückziehen mußte. Den dritten Angriff starteten zwei Bataillone der Sechsten Brigade, das Sechsundzwanzigste und das Zweiunddreißigste, aber die Kompanie von Hauptmann Almeida bekam ein Umgehungsmanöver aufgetragen. Es verlief ergebnislos,denn als sie die rückwärtigen Ausläufer des Berges hochkletterten, entdeckten sie, daß diese wie mit dem Messer durchschnitten waren von einer Schlucht voll Dorngestrüpp. Auf dem Rückweg spürte der Sergeant ein Brennen an der linken Hand: eine Kugel hatte ihm die Spitze des kleinen Fingers weggerissen. Es tat nicht weh, und als ihm der Bataillonsarzt in der Nachhut die Wunde desinfizierte, scherzte er noch, um die Verwundeten aufzumuntern, die von Krankenwärtern herangeschafft wurden. Am vierten Angriff nahm er als Freiwilliger teil, mit der Begründung, er wolle Rache nehmen für das Stück kleinen Finger und einen Engländer töten. Sie kamen bis zur Hälfte des Hangs, aber unter so schweren Verlusten, daß sie einmal mehr umkehren mußten. Aber bei diesem, dem fünften Angriff hatten sie den Gegner auf der ganzen Linie geschlagen: weshalb also der Rückzug? Womöglich, damit die Fünfte Brigade sie ablösen und Oberst Donaciano de Araujo Pantoja, das Hätschelkind von General Savaget, den ganzen Ruhm einheimsen konnte? »Schon möglich«, murmelt Hauptmann Almeida.
    Am Fuß des Berges, wo sich mehrere Kompanien unter heftigem Gedränge und Geschiebe neu aufzustellen versuchen, wo Viehtreiber Zugtiere vor Kanonen, Wagen und Ambulanzen spannen, wo Trompeten widersprüchliche

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