Der Krieg am Ende der Welt
Gedanken, er könnte untauglich geschrieben werden. Was würde er tun? Für ihn, der keine Frau, keine Kinder, keine Eltern hat, ist das Heer das alles zusammen.
Auf dem ganzen Marsch hinter den Bergen von Canudos hören die Infanteristen, Artilleristen und Reiter der Zweiten Kolonne mehrmals Schüsse aus dem Dickicht. Die eine oder andere Kompanie bleibt zurück, um ein paar Salven abzufeuern, der Rest marschiert weiter. Bei Einbruch der Dunkelheit macht das Zweiundzwanzigste Bataillon endlich Rast. Die dreihundert Mann legen Tornister und Gewehre ab. Sie sind erschöpft. Diese Nacht ist nicht wie alle anderen Nächte, seit sie von Aracajú aufgebrochen sind und über São Cristóvão, Lagarto, Itaporanga, Simão Dias, Jeremoabo und Canche bis hier vorgerückt sind. Sonst schlachteten die Soldaten nach dem Halt, gingen Wasser und Holz holen, und die Nacht füllte sich mit Gitarren, Gesang und Geplauder. Jetzt spricht niemand. Selbst der Sergeant ist müde.
Die Ruhe dauert für ihn nicht lange. Hauptmann Almeida ruft die Gruppenführer zusammen, um zu erfahren, wie vieleKartuschen sie noch haben, und um die gebrauchten auszuwechseln, so daß jeder zweihundert Kartuschen im Tornister hat, wenn sie aufbrechen. Er kündigt ihnen an, daß nun die Vierte Brigade, der sie alle angehören, die Vorhut übernimmt, und sein Bataillon die Vorhut der Vorhut. Die Nachricht beflügelt Frutuoso Medrado mit neuer Begeisterung, doch bei seinen Männern ruft das Bewußtsein, nun die Speerspitze zu sein, keinerlei Reaktion hervor. Gähnend und kommentarlos brechen sie auf.
Hauptmann Almeida hat gesagt, daß sie im Morgengrauen Kontakte mit der Ersten Kolonne haben würden, doch schon nach zwei Stunden erkennt der Voraustrupp der Vierten Brigade die dunkle Masse der Favela, auf der General Oscar, nach Aussagen seiner Boten, von den Banditen umzingelt ist. Trompetengeschmetter zerreißt die laue, windstille Nacht, und kurz darauf hören sie von fern die Antwort anderer Trompeten. Eine Salve von Hurra-Rufen schallt durchs ganze Bataillon: die Kameraden der Ersten Kolonne sind da! Der Sergeant Frutuoso sieht, daß auch seine Männer freudig erregt die Kappen schwenken und »Es lebe die Republik«, »Es lebe Marschall Floriano« rufen. Oberst Silva Telles gibt Befehl, weiterzugehen bis zur Favela. »Sich auf unbekanntem Terrain in die Höhle des Löwen zu wagen, ist gegen die vorschriftsmäßige Taktik«, schnaubt Hauptmann Almeida vor den Fähnrichen und Sergeanten, denen er eben letzte Instruktionen erteilt: »Vorrücken wie Skorpione, da ein Schritt, dort einer, Abstand halten, Überraschungen vermeiden.« Auch dem Sergeanten erscheint es unklug, in der Nacht vorzurücken, wo man doch weiß, daß zwischen ihnen und der Ersten Kolonne der Feind steht. Bald aber nimmt ihn die Nähe der Gefahr ganz in Anspruch: an der Spitze seiner Gruppe wittert er nach rechts und nach links in die Steinebenen.
Jäh, aus nächster Nähe, fulminant setzt das Gewehrfeuer ein und übertönt die Trompeten auf der Favela, die ihnen den Weg weisen. »Deckung, Deckung«, brüllt der Sergeant und schmeißt sich selber auf die Steine. Er horcht. Schießen sie von rechts? Ja, von rechts. »Sie stehen rechts«, brüllt er. »Los, feuern!« Und während er selber, auf den linken Ellenbogen gestützt, schießt, denkt er, daß ihn diese englischen Banditen sonderbare Dingeerleben lassen, wie den Rückzug aus einem schon gewonnenen Gefecht und einen Angriff im Finstern, in der Hoffnung, der liebe Gott werde die Kugeln schon gegen den Feind lenken. Ob die Kugeln nicht eher Kameraden treffen? Er erinnert sich einiger Kernsätze der Ausbildung: »Die vergeudete Kugel schwächt den, der sie vergeudet; geschossen wird nur, wenn man sieht, auf wen.« Seine Männer werden lachen. Manchmal hört er Flüche und Stöhnen zwischen den Schüssen. Endlich kommt der Befehl, das Feuer einzustellen; die Trompeten der Favela, die sie rufen, schallen wieder herüber. Hauptmann Almeida läßt die Kompanie noch eine Weile auf dem Boden liegen, bis er sicher ist, daß die Banditen abgeschlagen sind. Die Jäger des Sergeanten Frutuoso Medrado eröffnen den Marsch.
»Zwischen Kompanie und Kompanie: acht Meter. Zwischen Bataillon und Bataillon: sechzehn. Zwischen Brigade und Brigade: fünfzig.« Wer kann im Finstern die Abstände einhalten? Das Reglement besagt auch, daß der Gruppenführer auf dem Vormarsch hinten, beim Angriff vorne und im Karree in der Mitte stehen soll. Dennoch geht
Weitere Kostenlose Bücher