Der Krieg am Ende der Welt
der Sergeant vorn, weil er denkt, daß seine Männer, die schon jetzt nervös sind, in dieser Dunkelheit, in der jeden Augenblick Schüsse fallen, schwach werden könnten, wenn er hinten geht. Jede halbe Stunde, jede Stunde, vielleicht alle zehn Minuten – er weiß es nicht mehr, denn diese nie lange anhaltenden, weniger den Körper als die Nerven strapazierenden Blitzangriffe haben sein Zeitgefühl gestört – kommt ein Hagel von Schüssen und zwingt sie, sich auf den Boden zu werfen und – mehr der Ehre als der Wirksamkeit wegen – das Feuer zu erwidern. Er vermutet, daß die Angreifer wenige sind, vielleicht nur zwei oder drei, daß die Engländer aber durch die Dunkelheit im Vorteil sind, denn sie sehen sie, während die Patrioten sie nicht sehen, und das nervt den Sergeanten und zermürbt ihn. Wie mag es erst seinen Männern gehen, wenn schon er, bei all seiner Erfahrung, sich schlaff fühlt?
Manchmal scheinen die Trompeten auf der Favela in die Ferne zu rücken. Die Signale hüben und drüben skandieren den Marsch. Zweimal wird kurz gerastet, damit die Soldaten trinken und die Verluste festgestellt werden können. DieKompanie von Hauptmann Almeida ist unversehrt, aber in der von Hauptmann Noronha sind drei Männer verwundet. »Seht ihr, Glückspilze, euch fehlt nichts«, ermuntert sie der Sergeant.
Allmählich wird es hell, und das Gefühl, daß mit dem aufdämmernden Licht der Alptraum der Schüsse im Finstern zu Ende ist, daß sie jetzt sehen werden, wohin sie treten und wer sie angreift, muntert ihn auf.
Das letzte Stück ist ein Kinderspiel im Vergleich zu dem Vorhergegangenen. Die Ausläufer der Favela sind nahe, und im Morgenglanz kann der Sergeant die Erste Kolonne erkennen, ein paar bläuliche Flecke, Pünktchen, die nach und nach zu Silhouetten, Tieren, Wagen werden. Es sieht aus, als herrsche eine Mordsunordnung da oben, ein großer Wirrwarr. Frutuoso Medrado sagt sich, daß auch eine solche Ballung mit der »Taktik« und der »Dienstvorschrift« wenig in Einklang steht. Und eben – die Gruppen sind wieder vereint, die Kompanien marschieren in Viererreihen an der Spitze des Bataillons – bemerkt er zu Hauptmann Almeida, daß sich der Feind in Luft aufgelöst habe, als, nur ein paar Schritte entfernt, aus der Erde, aus Ästen und Zweigen der Büsche Köpfe und Arme und Läufe von Gewehren und Karabinern auftauchen, die alle zur gleichen Zeit Feuer speien. Hauptmann Almeida reißt an der Revolvertasche, um seinen Revolver zu ziehen, und krümmt sich, den Mund offen, als bekäme er keine Luft, und der Sergeant Frutuoso mit seinem brodelnden Riesenschädel begreift blitzschnell, daß sich auf den Boden werfen selbstmörderisch wäre, da der Feind ganz nahe ist, und kehrtmachen ebenso selbstmörderisch, weil sie auf sie zielen würden. Also schreit er, Gewehr in der Hand, aus allen Kräften: »Angreifen! Angreifen! Angreifen!«, und, mit gutem Beispiel voran, springt er auf den Schützengraben der Engländer zu, dieses große Loch hinter einem Rand aus Steinen. Er fällt hinein und hat den Eindruck, daß der Abzug klemmt, ist aber sicher, daß sich sein Bajonett in einen Körper bohrt. Es bleibt darin stecken, er kann es nicht wieder herausziehen. Er läßt das Gewehr los, schmeißt sich gegen die ihm nächste Gestalt, sucht ihren Hals. Immer wieder schreit er: »Angriff! Angriff! Feuer!«, während er Kopfstöße austeilt, zudrückt, beißt und in einem Wirbelversinkt, in dem irgendwer die verschiedenen Elemente aufsagt, aus denen laut »Taktik« ein korrekt ausgeführter Angriff besteht: Verstärkung, Deckung, Reserve und Kordon.
Als er eine Minute oder ein Jahrhundert später die Augen öffnet, wiederholen seine Lippen: Verstärkung, Deckung, Reserve, Kordon. Das ist der gemischte Angriff, ihr Knallköpfe. Von welchem Verpflegungskonvoi reden sie da? Er ist bei vollem Bewußtsein. Nicht im Schützengraben, sondern in einem trockenen Flußbett; vor sich sieht er eine steile Böschung, Kakteen, darüber den blauen Himmel, eine rote Kugel. Was tut er hier? Wie ist er hierher gekommen? Wann ist er aus dem Schützengraben herausgekommen? Das Gefasel vom Konvoi hallt, mit Angst und Schluchzen, in seinen Ohren. Es kostet ihn übermenschliche Anstrengung, den Kopf auf die Seite zu drehen. Da sieht er den kleinen Soldaten. Er fühlt sich erleichtert; er hat schon gefürchtet, es wäre ein Engländer. Der kleine Soldat liegt auf dem Gesicht, knapp einen Meter von ihm, und redet irre. Er kann ihn kaum
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