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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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sondern weil dort ihre Männer standen, sie wollten wissen, ob sie noch am Leben waren. Ohne weiter zu überlegen, lief sie ihnen nach. Dem Kurzsichtigen, der mit offenem Mund wie versteinert dastand, rief sie zu, er solle auf sie warten.
    Sie zerkratzte sich beim Klettern die Hände, zweimal rutschte sie aus. Der Aufstieg war steil; ihr Herz schlug, daß sie kaum mehr atmen konnte. Als sie oben war, sah sie ockerfarbene, bleifarbene, orangerote Wolken, die der Wind formte und auflöste und neu formte, und außer vereinzelten, sehr nahen Schüssen drangen unverständliche Worte an ihr Ohr. Auf Händen und Füßen kroch sie den Abhang auf der anderen Seite ein Stück hinunter und versuchte zu sehen. Sie entdeckte zwei aneinandergelehnte Felsblöcke und starrte in die Rauchschleier. Nach und nach sah, ahnte, erriet sie. Die Jagunços waren nicht weit, aber es war schwer, sie zu erkennen, sie waren eins mit dem Hang. Hinter Felsplatten und Kakteen kauernd, in Löcher geduckt, aus denen nur der Kopf heraussah, entdeckte sie sie. Auch auf den Hügeln gegenüber, deren Masse sie durch denQualm und Staub hindurch erkennen konnte, mußten viele Jagunços sein, verstreut, versteckt, schießend. Sie hatte den Eindruck, daß sie gleich taub werden, daß dieses fürchterliche Krachen das letzte sein würde, was sie hörte.
    Und da begriff sie, daß dieser dunkle Grund, dieses Waldartige in der Schlucht, die fünfzig Meter unter ihr lag, die Soldaten waren. Ja, sie: ein großer, aufwärts ziehender, näherrückender Teppich, in dem Blitzendes, Funkelndes, Lichtspiegelungen und rote Funken zu sehen waren, die Schüsse, Bajonette, Säbel sein mußten, und undeutlich sah sie Gesichter auftauchen und wieder verschwinden. Sie blickte nach beiden Seiten: rechts war der Teppich schon auf ihrer Höhe. Sie spürte, wie es ihr den Magen hob, und erbrach sich auf ihren Arm. Sie stand allein auf dem Berg, gleich würde dieser Ansturm von Soldaten über ihr zusammenbrechen. Ohne zu überlegen, setzte sie sich hin und rutschte zu dem nächstgelegenen Jagunço-Nest hinunter: drei Hüte über einem Loch: zwei Lederhüte, ein Strohhut. »Nicht schießen, nicht schießen!« schrie sie. Aber keiner wandte sich nach ihr um, als sie in die Mulde hinter der schützenden Steinbrüstung sprang. Da sah sie, daß von den dreien zwei tot waren. Einem hatte ein Volltreffer das Gesicht in eine rote Masse verwandelt. Er lag in den Armen des zweiten, dessen Augen und Mund zugedeckt waren von Fliegen. Sie stützten sich gegenseitig wie die Felsblöcke, hinter denen sie versteckt lagen. Der lebende Jagunço blickte sie nach einer Weile flüchtig an. Er zielte, das eine Auge zugekniffen, genau berechnend, ehe er schoß, und bei jedem Schuß schlug das Gewehr gegen seine Schulter. Beim Zielen bewegte er die Lippen. Jurema verstand nicht, was er sagte. Sie kroch zu ihm, umsonst. Ein Sausen in den Ohren war alles, was sie hörte. Der Jagunço zeigte auf etwas, und endlich begriff sie, daß er die Tasche neben dem Toten ohne Gesicht haben wollte. Sie reichte sie ihm und sah, wie der Jagunço mit übereinandergeschlagenen Beinen dasaß und in aller Ruhe sein Gewehr säuberte und lud, als hätte er soviel Zeit, wie er wollte.
    »Die Soldaten sind da«, schrie Jurema. »Mein Gott, was wird werden?«
    Er zuckte die Achseln und stützte sich wieder auf die Brustwehr. Sollte sie fort aus dem Schützenloch, auf die andereBergseite zurücklaufen, nach Canudos fliehen? Ihr Körper gehorchte ihr nicht mehr, ihre Beine waren wie Lappen; wenn sie aufstand, würde sie zusammenbrechen. Warum kamen sie nicht mit ihren Bajonetten, warum brauchten sie so lange, wo sie doch so nahe waren? Der Jagunço bewegte den Mund, aber sie hörte nur dieses Rauschen und nun auch metallisch klingende Töne. Trompeten?
    »Ich höre nichts, ich höre nichts«, schrie sie, so laut sie konnte.
    »Ich bin taub.«
    Der Jagunço nickte und machte ihr Zeichen, als wollte er sagen, da geht jemand fort. Er war jung, sein langes, lockiges Haar quoll üppig unter der breiten Krempe seines grünlichen Huts hervor. Er trug die Armbinde der Katholischen Wachmannschaft. »Was?« brüllte Jurema. Er machte ihr Zeichen, über die Brustwehr zu schauen. Sie schob die Leichen beiseite und sah durch eine Öffnung zwischen den Steinen. Die Soldaten waren jetzt weiter unten, sie waren es, die fortgingen. Warum gehen sie, wenn sie doch gewonnen haben? dachte sie, als sie sah, wie sie von Staubwirbeln aufgeschluckt wurden.

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