Der Krieg am Ende der Welt
tun, da sie wisse, was geschehen würde, daß es Rufinos und ihr Ruin sein würde, auch der des Ausländers, doch der, der ihre Sprache nicht verstand, hörte nicht auf sie.
Als sie erwachte, saß der Kurzsichtige zu ihren Füßen und sah sie an wie der Zirkusidiot. Zwei Jagunços standen bei den Frauen und tranken aus einem Tonkrug. Sie stand auf, um zu hören, was los war. Der Zwerg war nicht wieder erschienen, und das Gewehrfeuer war ohrenbetäubend. Die Jagunços waren gekommen, um Munition zu holen, sie konnten kaum sprechen vor Anspannung und Müdigkeit; der Hohlweg sei übersät mit Atheisten, sie fielen wie die Fliegen, sooft sie den Berg zu stürmen versuchten. Ein ums andere Mal hätten sie ihre Angriffe abgeschlagen, sie nicht einmal auf halbe Höhe heraufkommen lassen. Der Sprecher, ein kleines Männlein mit dünnem, graumeliertem Bart, zuckte die Achseln: nur seien es so viele, daß nichts sie zum Rückzug veranlassen könne. Ihnen selbst aber ginge allmählich die Munition aus.»Und wenn sie die Höhe nehmen?« hörte Jurema den Kurzsichtigen.
»In Trabubú können sie sie nicht aufhalten«, räusperte sich der andere Jagunço. »Dort sind fast keine Leute mehr, alle sind hier, um uns zu helfen.«
Als hätte sie das daran erinnert, daß sie gehen mußten, murmelten die Jagunços »Gelobt sei der gute Jesus«, und Jurema sah sie die Felsen hochklettern und verschwinden. Das Essen müsse aufgewärmt werden, sagten die Sardelinhas, jeden Augenblick könnten mehr Jagunços kommen. Während sie ihnen half, spürte Jurema den Kurzsichtigen an ihren Röcken, fühlte ihn zittern. Sie erriet sein Entsetzen, seine panische Angst, plötzlich könnten die Uniformierten die Höhen herunterkommen und niederschießen und aufspießen, was ihnen über den Weg liefe. Außer dem Gewehrfeuer donnerten nun auch Kanonenschüsse, gefolgt von ohrenbetäubendem Prasseln rollenden Gesteins. Jurema erinnerte sich, wie unentschlossen ihr armer Sohn in all diesen Wochen gewesen war, ratlos, was er mit seinem Leben anfangen, ob er bleiben oder fliehen sollte. Er wollte fort, das war sein Wunsch; in den Nächten, wenn sie im Laden auf dem Boden lagen und die Vilanova schnarchen hörten, hatte er es ihnen mit bebender Stimme gesagt: Er wolle fort, fliehen, nach Salvador, nach Cumbe, nach Monte Santo, nach Jeremoabo, irgendwohin, wo er Hilfe erbitten und befreundeten Menschen mitteilen könne, daß er am Leben sei. Aber wie sollte er wegkommen, da es ihnen verboten war? Wie weit würde er kommen, allein und halbblind? Sie würden ihn einfangen und töten. In manchen dieser geflüsterten Unterredungen hatte er Jurema zu überreden versucht, ihn in irgendein Dorf zu bringen, wo er sich Spurensucher nehmen konnte. Jede nur denkbare Belohnung hatte er ihr versprochen, wenn sie ihm half, aber gleich darauf hatte er sich berichtigt und gesagt, fortzulaufen sei Wahnsinn, man würde sie finden und töten. Früher hatte er vor den Jagunços gezittert, nun zitterte er vor den Soldaten. Mein armer Sohn, dachte sie. Sie fühlte sich traurig und mutlos. Würden die Soldaten sie töten? Ihr war es einerlei. Stimmte es, daß in der Todesstunde jedes Mannes und jeder Frau von Belo Monte ein Engel kam, um ihre Seelen in Empfang zu nehmen? In jedem Fall würde der Tod Ruhe sein,Schlaf ohne traurige Träume, etwas weniger Schlimmes als das Leben, das sie seit den Vorfällen in Queimadas führte.
Alle Frauen richteten sich auf, und Jurema folgte ihrem Blick: von den Höhen kamen zehn oder zwölf Jagunços angerannt. Gleich den anderen Frauen lief sie ihnen entgegen und hörte, daß sie Munition haben wollten: sie hätten nichts mehr, womit sie kämpfen könnten, die Männer seien wütend. Als die Sardelinhas erwiderten, »Was denn für Munition?« und ihnen erklärten, daß zwei Jagunços vor einer Weile die letzten Kisten fortgetragen hätten, sahen sie sich an, und einer spuckte aus und stampfte zornig auf. Sie boten ihnen Essen an, aber sie tranken nur, aus einer Schöpfkelle, die sie von Hand zu Hand gehen ließen. Dann liefen sie bergauf. Der letzte wandte sich an die Sardelinhas:
»Geht lieber zurück nach Belo Monte. Lange halten wir nicht mehr stand. Sie sind zu viele, und wir haben keine Kugeln mehr.«
Doch statt zu den Maultieren zu gehen, rannten die Frauen nach einem Augenblick der Unschlüssigkeit ebenfalls bergauf. Jurema wußte nicht, was sie tun sollte. Die Frauen liefen nicht mitten in den Krieg hinein, weil sie verrückt waren,
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