Der Krieg am Ende der Welt
Eifer und unbewegter Miene kaute – das Gewehr hatte er an die Wand gelehnt, aber Jagdmesser, Machete und Munitionsketten behielt er am Körper –, daß dieser selbe Mann in jener Nacht mit bebender und verzweifelter Stimme diese Liebesdinge zu Jurema gesagt hatte. Es war kein Gefecht im Gange, nur vereinzelte Schüsse fielen, ein Geräusch, an das sich die Ohren des Zwergs gewöhnt hatten. Woran er sich nicht gewöhnen konnte, das waren die Kanonenschüsse, der entsetzliche Knall, und danach die Staubwolken, die Einstürze, die Krater in der Erde, das Geheul kleiner Kinder und die zerstückelten Leichen. Sooft ein Geschütz donnerte, war er der erste, der sich zu Boden warf und an Jurema oder den Kurzsichtigen geklammert die Augen schloß und schwitzend vor Angst zu beten versuchte.
Um das Schweigen zu brechen, fragte er schüchtern, ob es stimme, daß Joaquim Macambira und seine Söhne die Metzlerin vernichtet hätten, ehe sie getötet wurden. Pajeú verneinte. Aber wenige Tage später sei die Metzlerin den Freimaurern explodiert, und drei oder vier Artilleristen seien dabei umgekommen. Vielleicht habe der Vater das getan, um die Macambira für ihr Martyrium zu belohnen. Der Caboclo vermied es, Jurema anzusehen, und sie schien ihn nicht zu hören. Immer an ihn gewandt, fügte Pajeú hinzu, daß es den Gottlosen auf der Favela von Tag zu Tag schlechter gehe, sie stürben an Hunger und Krankheiten und seien verzweifelt über die Verluste, die ihnen die Katholiken zufügten. In den Nächten könne man sie bis hierher jammern und weinen hören.
Ob er damit sagen wolle, daß sie bald abzögen?
Pajeú machte eine Geste des Zweifels.
»Das Problem liegt weiter hinten«, murmelte er und deutete mit dem Kinn nach Süden. »In Queimadas und Monte Santo. Immer mehr Freimaurer kommen, mehr Gewehre, mehr Vieh, mehr Korn. Ein neuer Transport mit Verstärkung und Lebensmitteln ist unterwegs. Und bei uns geht alles zu Ende.«Die Narbe in seinem blaßgelben Gesicht kräuselte sich ein wenig.
»Diesmal werde ich ihn abfangen«, sagte er, zu Jurema gewandt, und der Zwerg fühlte sich plötzlich meilenweit von ihnen entfernt. »Schade, daß ich gerade jetzt fort muß.«
Jurema ertrug den Blick des ehemaligen Cangaceiro fügsam und abwesend und sagte nichts.
»Ich weiß nicht, wie lange ich fort sein werde. Bei Jueté werden wir sie überfallen. Drei oder vier Tage mindestens.«
Jurema öffnete den Mund, sagte aber nichts. Sie hatte noch nicht gesprochen, seit sie gekommen war.
Da entstand im Schützengraben ein Aufruhr. Der Zwerg sah eine erregte Schar herankommen: ein Raunen lief ihr voraus. Pajeú stand auf und nahm sein Gewehr. Aufgelöst, über Sitzende und Hockende stolpernd, kamen mehrere Jagunços zu ihnen. Sie stellten sich um Pajeú und sahen ihn eine Weile an, ohne daß einer sprach. Endlich tat es ein alter Mann, der ein behaartes Muttermal am Nacken hatte.
»Sie haben Taramela getötet. Ein Schuß ins Ohr, beim Essen.« Er spuckte aus und murmelte, zu Boden blickend: »Du hast deinen Glücksbringer verloren, Pajeú.«
»Sie verwesen, noch ehe sie sterben«, sagt laut der junge Teotônio Leal Cavalcanti und glaubt, er habe es nur gedacht, nicht ausgesprochen. Doch er braucht nicht zu befürchten, daß ihn die Verwundeten hören. Zwar ist das Feldlazarett der Ersten Kolonne in einer Senke zwischen den Gipfeln der Favela und dem Monte Mário gut vor dem Feuer geschützt, aber in diesem Schalltrichter wiederholt und verstärkt sich im Echo das Krachen der Schüsse und vor allem der schweren Geschütze und ist eine Qual mehr für die Verwundeten, die laut schreien müssen, um verstanden zu werden. Nein, keiner hat ihn gehört.
Der Gedanke an das Verwesen foltert Teotônio Leal Cavalcanti. Als Medizinstudent im letzten Semester in São Paulo hat er selbstverständlich Verletzte, Sterbende, Leichen schon gesehen, ehe er sich aus glühender republikanischer Gesinnung freiwillig zu den Truppen gemeldet hat, die auszogen, in Canudos dasVaterland zu verteidigen. Aber wie konnte man den Anatomieunterricht, die Autopsien im Amphitheater der Fakultät, die Verletzten in den Krankenhäusern, in denen er sein medizinisches Praktikum gemacht hat, mit der Hölle vergleichen, die diese Mausefalle von Favela war? Was ihn verblüfft, ist die Geschwindigkeit, mit der sich die Wunden infizieren, die Bewegung, die sich innerhalb weniger Stunden an ihnen bemerkbar macht, das Gewimmel der Würmer und die sofort beginnende Absonderung
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