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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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der Zwerg diesen Teil der Stadt. Denn in der Santa Inês wurden tagsüber die Leichen gestapelt, die nur zur Nachtzeit begraben werden konnten – der Friedhof lag in der Feuerlinie –, und der Gestank war furchtbar, ganz abgesehen von dem Weinen und Stöhnen der Verwundeten in den Gesundheitshäusern und dem traurigen Anblick der alten Leute, Invaliden und Kriegsuntauglichen, die den Auftrag hatten, Aasgeier und Hunde von den fliegenumschwärmten Leichen abzuhalten. Die Bestattungen fanden nach dem Rosenkranz und der Stunde des Rats statt, zu der die Glocke vom Tempel des guten Jesus jeden Abend pünktlich die Leute zusammenrief. Nur daß sie jetzt im Dunkeln stattfand, ohne die großen funkensprühenden Kerzen wie vor dem Krieg. Zur Stunde des Rats pflegten Jurema und der Kurzsichtige ihn zu begleiten. Aber wenn er danach mit den Trauerzügen zum Friedhof zog, kehrten sie nach der Predigt des Ratgebers in den Laden zurück. Den Zwerg faszinierten diese Beerdigungen, diese merkwürdige Manie der Hinterbliebenen, ihre Toten mit einem Stück Holz auf dem Leib zu bestatten. Da keiner mehr da war, der Särge zimmerte, weil alle im Krieg standen, wurden die Toten in Hängematten beerdigt, manchmal zwei oder drei in einer. Die Verwandten legten ein kleines Brett, einen Zweig, irgendeinen hölzernen Gegenstand in die Hängematte, um dem Vater zu beweisen, daß sie willens waren, dem Toten ein würdiges Begräbnis im Sarg zu geben, daß widrige Umstände es aber verhinderten.
    Bei der Rückkehr von einem seiner Streifzüge fand der Zwerg Pater Joaquim bei Jurema und dem Blinden vor. Seit ihrer Ankunft, vor Monaten, war er nicht mehr mit ihnen allein gewesen. Sie sahen ihn oft, zur Rechten des Ratgebers auf dem Turm des Tempels oder Messe lesend oder mit der Menge auf dem Hauptplatz den Rosenkranz betend, auf Prozessionen, eingeschlossen vom eisernen Ring der Katholischen Wachmannschaft, und auf Beerdigungen, wo er auf lateinisch die Responsorien psalmodierte. Sie hatten gehört, daß er, wenn er nicht da war, Reisen in die letzten Winkel der Sertöes unternahm, um Besorgungen für die Jagunços zu machen und ihnen Hilfe zu bringen. Seitdem der Krieg wieder ausgebrochen war, erschien er häufig auf den Straßen, vor allem in der Santa Inês, um in den Gesundheitshäusern den Sterbenden die Beichte abzunehmen und ihnen die Letzte Ölung zu geben. Obwohl der Zwerg oft seinen Weg gekreuzt hatte, war er nie von ihm angesprochen worden. Doch als er nun den Laden betrat, reichte ihm der kleine Pfarrer die Hand und gab ihm freundliche Worte. Er saß auf einem Melkschemel. Vor ihm saßen Jurema und der Kurzsichtige im Schneidersitz auf dem Boden.
    »Nichts ist einfach, nicht einmal das, und dabei schien es das einfachste von der Welt zu sein«, sagte Pater Joaquim entmutigt und schnalzte mit der Zunge. »Ich dachte, es wäre ein großes Glück für dich und ich würde endlich einmal als Freudenbringer in einem Haus empfangen.« Er machte eine Pause und befeuchtete den Mund mit der Zunge. »Immer gehe ich nur mit dem geweihten Öl in die Häuser, um den Toten die Augen zu schließen, um leiden zu sehen.«
    Der Zwerg dachte, daß der Pfarrer in diesen Monaten ein alter Mann geworden sei. Er hatte kaum noch Haare und durch die Büschel weißen Flaums über den Ohren sah man den gebräunten, sommersprossigen Schädel. Seine Magerkeit war extrem; der Ausschnitt seiner zerschlissenen, ins Bläuliche spielenden Soutane verriet die vorspringenden Brustknochen, und mit der schlaffen, gelben Haut, aus der weißlich die Stoppeln eines unrasierten Bartes standen, war sein Gesicht nach unten gerutscht. Hunger und Alter und eine unermeßliche Müdigkeit standen in diesem Gesicht.
    »Ich heirate ihn nicht, Pater«, sagte Jurema. »Wenn er mich zwingt, nehme ich mir das Leben.«
    Sie sprach ruhig, mit der gleichen stillen Entschlossenheit wie in jener Nacht, und der Zwerg begriff, daß es der Pfarrer schon einmal gehört haben mußte, da er keine Überraschung zeigte.
    »Er wird dich nicht zwingen«, sagte er leise. »Er ist nicht einmal auf den Gedanken gekommen, du könntest ihn abweisen. Er weiß wie alle Welt, daß sich jede Frau in Canudos glücklich preisen würde, von Pajeú erwählt zu werden, um eine Familie zu gründen. Du weißt doch, wer Pajeú ist, meineTochter? Sicher hast du gehört, was man sich über ihn erzählt.«
    Bedrückt blickte er auf den erdigen Fußboden. Ein kleiner Tausendfüßler kroch zwischen seinen Sandalen durch,

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