Der Krieg am Ende der Welt
roter Fleck sind, mit Pusteln bedeckt, die sich ständig bewegen. Ja, sie sind drinnen und vermehren sich und zerfressen dem armen alten Mann das Fleisch. Teotônio hat heucheln gelernt, lügen, lächeln. Die Stiche hätten sich gebessert, behauptet er, der Soldat solle versuchen, sich nicht zu kratzen. Er gibt ihm Chinin in einer halben Tasse Wasser und versichert, damit würde das Jucken nachlassen.
Er setzt seinen Rundgang fort und stellt sich die Kinder vor, die diese Verbrecher nachts mit den Ameisennestern ausschicken. Barbaren, Unzivilisierte, Wilde. Nur Menschen ohne jedes Gefühl konnten unschuldige Kinder so pervertieren. Auch über Canudos hat der junge Teotônio seine Ansichten geändert. Sind das wirklich restaurative Monarchisten? Stecken sie wirklich unter einer Decke mit den Bragança und den Sklavenhaltern? Stimmt es tatsächlich, daß diese Wilden nur Handlanger des perfiden Albion sind? Obwohl er sie »Nieder mit der Republik« rufen gehört hat, ist sich Teotônio Leal Cavalcanti nicht mehr so sicher. Alles ist undurchsichtig geworden. Er hat erwartet, hier auf englische Offiziere zu stoßen, die die Jagunços beraten und ihnen den Umgang mit modernsten, über die Küste von Bahia eingeschmuggelten Waffen beibringen. Aber unter den Verwundeten, die er zu kurieren vorgibt, sind Opfer von Caçarema -Ameisen, von Dolchen und vergifteten Pfeilen, von spitzen Steinen aus urzeitlichen Steinschleudern! So daß ihm dieses monarchistische, von englischen Offizieren verstärkte Heer jetzt einigermaßen phantastisch erscheint ... Wir haben es mit gewöhnlichen Kannibalen zu tun, denkt er. Und doch sind wir dabei, den Krieg zu verlieren; wir hätten ihn schon verloren, wenn uns die Zweite Kolonne nicht zu Hilfe gekommen wäre, als wir in diese Bergfalle gingen. Wie war ein solches Paradox zu begreifen?
Eine Stimme hält ihn an. »Teotônio?« Es ist ein Leutnant, auf seiner zerfetzten Uniform sind Dienstgrad und Truppenteilnoch zu lesen: Neuntes Infanteriebataillon, Salvador. Seit dem Tag, an dem die Erste Kolonne auf der Favela ankam, liegt er im Feldlazarett; er war in der Vorhut der Ersten Brigade bei denjenigen Einheiten, denen Oberst Joaquim Manuel de Medeiros den unsinnigen Befehl erteilte, über den Steilhang der Favela nach Canudos vorzurücken. Das Gemetzel, das die Jagunços aus ihren unsichtbaren Schützengräben unter ihnen anrichteten, war grauenhaft. Noch jetzt liegt die erste Linie Soldaten versteinert auf halber Höhe, wo sie erschossen worden sind. Leutnant Pires Ferreira traf eine Sprengkugel ins Gesicht, riß ihm die beiden schützend hochgehobenen Hände weg und ließ ihn erblinden. Es war der erste Tag gewesen, Doktor Alfredo Gama konnte ihn noch mit Morphium betäuben, als er ihm die Armstummel kauterisierte und sein zerschossenes Gesicht desinfizierte. Leutnant Pires Ferreira hat auch das Glück, daß seine Wunden durch Verbände gegen Staub und Insekten geschützt sind. Er ist ein mustergültiger Verwundeter, nie hat ihn Teotônio weinen oder sich beklagen hören. Sooft er ihn nach seinem Befinden fragt, hört er ihn sagen »Gut«. Und »Nichts«, wenn er ihn fragt, ob er etwas braucht. Teotônio unterhält sich oft mit ihm, nachts, neben ihm auf dem Stein ausgestreckt, aufschauend zu den immer zahlreichen Sternen am Himmel von Canudos. So hat er gehört, daß Leutnant Pires Ferreira in diesem Krieg schon ein Veteran ist, einer der wenigen, die bei allen vier von der Republik gegen die Jagunços entsandten Expeditionen mitgemacht hat. So hat er auch erfahren, daß diese Tragödie Endpunkt einer Reihe von Demütigungen und Niederlagen für ihn ist. Er hat den Grund seiner Bitterkeit begriffen und warum Pires Ferreira so stoisch die Leiden erträgt, die andere um ihre Moral und Würde bringen. Bei ihm sind nicht die physischen Wunden die schlimmsten. »Teotônio?« wiederholt Pires Ferreira. Der Verband verdeckt sein halbes Gesicht, läßt Mund und Kinn aber frei.
»Ja«, sagt der Student und setzt sich neben ihn. Er sagt den zwei Krankenpflegern mit der Apotheke und den Wasserschläuchen, daß sie ausruhen können; sie ziehen sich ein paar Schritte zurück und lassen sich auf den Boden fallen. »Ich leiste dir ein wenig Gesellschaft, Manuel da Silva. Brauchst du etwas?«»Hören sie uns auch nicht?« sagt der Leutnant leise. »Ich muß dir etwas sagen, Teotônio, vertraulich.«
In diesem Augenblick setzt auf der anderen Seite der Berge Glockengeläut ein. Der junge Leal Cavalcanti
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