Der Krieg am Ende der Welt
Lohgerbereien, am Bahnhof, in der Pension Nossa Senhora das Graças oder auf dem Platz von Queimadas: überall das gleiche Mißtrauen in den Augen, das gleiche Verstummen, die gleichen ausweichenden Antworten. Sie sind vorsichtig. Sie mißtrauen, denkt er. Er denkt: Sie wissen, was sie tun. Sie sind klug.
Wieder wühlt er zwischen der Wäsche und dem Revolver und zieht das einzige Buch heraus, das in der Tasche liegt. Es ist ein altes, abgegriffenes Exemplar in dunklem Pergament, auf dem der Name Joseph Proudhon kaum mehr zu lesen, der Titel aber, Système des Contradictions, und der Verlagsort, Lyon, noch deutlich sichtbar sind. Er kann sich nicht lange auf die Lektüre konzentrieren, der Lärm des Volksfestes und vor allem die verräterische Ungeduld lenken ihn ab. Mit zusammengebissenen Zähnen versucht er angestrengt über objektive Dinge nachzudenken. Ein Mann, der sich weder für allgemeine Probleme noch Ideen interessiert, lebt eingesperrt in Eigentümelei: das kann man hinter den Ohren an der Biegung zweier vorstehender, fast spitzer Knöchelchen erkennen. Hat er sie bei Rufino gespürt? Vielleicht äußert sich der Hang zum Wunderbaren bei dem Mann, der ihn nach Canudos führen soll, in seinem seltsamen Ehrgefühl, in dem, was man seine ethische Einbildungskraft nennen könnte?
Seine frühesten Erinnerungen, die auch seine besten waren und ihm regelmäßig ins Gedächtnis kamen, waren nicht die an seine Mutter, die ihn verließ, um hinter einem Feldwebel der Bahianer Polizei herzurennen, der in Verfolgung einer Räuberbande an der Spitze einer Mobilen Einheit durch Custodiagekommen war, noch die an seinen Vater, den er nie kennengelernt hatte, noch die an Onkel und Tante, die ihn zu sich genommen und großgezogen hatten – Zé Faustino und Dona Angela –, noch die an die etwa dreißig Hütten entlang den sonnenverbrannten Gassen von Custodia, sondern die an die Wandererzähler. Sie kamen zu bestimmten Anlässen, zu einer Hochzeit oder einem Rodeo auf einer Fazenda oder dem Jahrmarkt, den das Dorf für seinen Heiligen abhielt, und für einen Schluck Zuckerrohrschnaps und ein Gericht Dörrfleisch und Maniok erzählten sie die Geschichten von Olivier oder der Prinzessin Magelone, von Karl dem Großen und den zwölf Pairs von Frankreich. João hörte ihnen mit aufgerissenen Augen zu, seine Lippen bewegten sich im Sprechtakt des Troubadours. Hinterher schwelgte er in Träumen von den sausenden Lanzen der Ritter, die die Christenheit von den heidnischen Horden erretteten.
Aber die Geschichte, die ihm völlig in Fleisch und Blut überging, war die von Robert dem Teufel, Sohn des Normannenherzogs, der alle nur erdenklichen Greueltaten verübte, dann aber bereute, auf allen vieren lief, bellte, statt zu sprechen, und so lange bei den Tieren schlief, bis er durch den guten Jesus Vergebung erlangte, den Kaiser vor dem Angriff der Mauren rettete und sich mit der Königin von Brasilien verheiratete. Das Kind bestand darauf, daß die Troubadoure sie erzählten, ohne ein einziges Detail auszulassen: Wie Robert in seiner schlimmen Zeit unzähligen adligen Fräuleins und Einsiedlern das Jagdmesser in die Kehle gestoßen hatte, weil er seine Lust daran hatte, sie leiden zu sehen, und wie er in seiner Zeit als Diener Gottes, auf der Suche nach den Verwandten seiner Opfer, durch die Welt zog, wie er ihnen die Füße küßte und sich Strafen von ihnen erbat. Die Leute von Custodia dachten, João würde Wandererzähler im Sertão werden, er würde von Dorf zu Dorf ziehen, die Gitarre auf dem Rücken, und Botschaften bringen und die Leute mit Geschichten und Musik erfreuen. João half Zé Faustino in dessen Laden, in dem sich die ganze Gegend mit Stoffen, Korn, Getränken, Feldgeräten, Süßigkeiten und billigem Kram versorgte. Zé Faustino war viel unterwegs, er brachte Waren auf die Fazendas oder kaufte in der Stadt ein, und während seiner Abwesenheit führte Dona Angela dasGeschäft. Die Tante wandte dem Neffen die Liebe zu, die sie eigenen Kindern nicht geben konnte, weil sie keine hatte. Sie nahm João das Versprechen ab, sie einmal nach Salvador zu bringen, damit sie sich dem wunderwirkenden Bild des Senhor de Bonfim zu Füßen werfen konnte, von dem sie eine ganze Sammlung bunter Bilder am Kopfende ihres Bettes befestigt hatte.
Die Bewohner von Custodia fürchteten, nicht weniger als Dürre und Seuchen, zwei Plagen, die das Dorf von Zeit zu Zeit arm machten: die Cangaceiros und die Mobilen Einheiten der Guarda
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