Der Krieg am Ende der Welt
Geländer. Nach einer Weile ging er rasch an die Kommode, in der Estela, wie er wußte, das kleine Schildpattfernglas verwahrte, das sie im Theater benutzte.
Er kehrte auf den Balkon zurück, schaute mit einem Gefühl wachsender Verblüffung und Unbehagens. Ja, da waren die Boote, genau in der Mitte zwischen der Insel Itaparica und dem runden Fort São Marcelo, und tatsächlich waren die Leute in den Booten nicht beim Fischen, sondern warfen Blumen ins Meer, streuten Blütenblätter, Blumenkronen, blühende Zweige aufs Wasser und bekreuzigten sich dabei, und obwohl er es nicht hören konnte – sein Herz schlug heftig –, war er sicher, daß diese Leute auch Gebete sprachen und vielleicht sangen.
Der Löwe von Natuba hört sagen, daß erster Oktober ist, der Geburtstag des Beatinho, daß die Soldaten Canudos von drei Seiten angreifen und versuchen, die Barrikaden in der Madre Igreja, der Säo Pedro und am Tempel des guten Jesus zu durchbrechen, aber was in seinem zottigen Kopf nachhallt, ist die andere Sache, die er gehört hat: daß seit ein paar Stunden der Kopf von Pajeú, ohne Augen, ohne Zunge und ohne Ohren bei Fazenda Velha in den Schützengräben der Hunde auf einer Picke schwankt. Sie haben Pajeú getötet. Auch alle anderen werden sie umgebracht haben, die mit ihm ins Feldlager der Atheisten gegangen sind, um den Vilanova und den Fremden aus Canudos herauszuhelfen, und sicher haben sie auch diegefoltert und enthauptet. Wie lange wird es noch dauern, bis ihm und der Mutter der Menschen das gleiche geschehen wird, und allen den frommen Frauen, die sich hingekniet haben, um für Pajeús Martyrium zu beten.
Durch das Geschrei und Geschieße kann der Löwe von Natuba kaum hören, als die kleine Tür des Sanktuariums aufgeht und João Abade auf der Schwelle steht:
»Kommt, kommt, fort von hier!« brüllt der Straßenkommandant, mit den Händen fuchtelnd, um sie anzutreiben. »In den Tempel des guten Jesus! Lauft!«
Er macht kehrt und verschwindet im Staub, der mit ihm ins Sanktuarium gedrungen ist. Der Löwe von Natuba hat keine Zeit zu erschrecken, zu überlegen, sich etwas vorzustellen. Die Worte João Abades reißen die frommen Frauen hoch; kreischend die einen, die anderen sich bekreuzigend, stürzen sie, ihn beiseite schiebend, fortstoßend, an die Wand drückend, zur Tür. Wo sind seine Hand-Schuhe, diese Sohlen aus ungegerbtem Leder, ohne die er nicht weit laufen kann, weil seine Handflächen wund werden? In dem vom Staub verfinsterten Raum tastet er nach der einen, der anderen Seite, ohne sie zu finden, und in dem Bewußtsein, daß alle gegangen sind, daß auch Mutter Maria Quadrado gegangen ist, trabt er eilig zur Tür. Seine ganze Energie, sein heller Verstand sind auf den Entschluß konzentriert, in den Tempel des guten Jesus zu gelangen, wie João Abade befohlen hat, und während er den Trampelpfad hinter den Schützengräben am Sanktuarium entlangläuft, anstößt, sich aufschürft, bemerkt er, daß die Männer der Katholischen Wachmannschaft schon nicht mehr da sind, jedenfalls keine lebenden, denn da und dort, auf und zwischen und unter Sandsäcken und Sandkisten, liegen Tote, mit deren Beinen, Armen, Köpfen seine Hände und seine Füße zusammenstoßen. Als er durch das Labyrinth der Barrikaden an den Kirchplatz gelangt ist und ihn überqueren will, veranlaßt ihn dieser Selbstschutzinstinkt, der bei ihm stärker entwickelt ist als bei anderen, der ihn von Kindesbeinen an gelehrt hat, eine Gefahr früher und besser als sonst jemand zu entdecken, und ihn befähigt, sofort zwischen mehreren Gefahren zu wählen, anzuhalten und sich zwischen zwei Stapel zerschossener Fässer zu ducken, aus deren Löchern Sand rieselt. Nie wird er denTempel erreichen, er würde umgerannt, getreten, zerquetscht werden von der Menschenmenge, die zügellos, frenetisch dieser Zufluchtsstätte entgegenrennt, und selbst wenn er bis zur Tür käme – die großen, lebhaften, durchdringenden Augen des Schreibers wissen es auf den ersten Blick –, würde es ihm nicht gelingen, durchzukommen in diesem Schwarm von Körpern, die sich stauen und gegenseitig bedrängen und langsam abfließen in diesen Flaschenhals, den Eingang in dieses letzte Refugium, das einzige solide, aus Stein gebaute, das es in Belo Monte noch gibt. Besser ist, hierzubleiben, besser, hier den Tod zu erwarten, als ihn in dieser Menschenpresse zu suchen, der sein schwächlicher Körperbau nicht gewachsen ist, diesem Gedränge, das er mehr als alles
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