Der Krieg am Ende der Welt
fürchtet, seit er sich in das herdenhafte, kollektive, prozessionsfreudige und kulteifrige Leben von Canudos gemischt hat. Er denkt: Ich werfe dir nicht vor, daß du mich verlassen hast, Mutter der Menschen. Es ist dein Recht, um dein Leben zu kämpfen, um einen Tag, eine Stunde mehr. Aber in seinem Herzen ist ein großer Schmerz: der Augenblick wäre weniger hart und bitter, wenn sie oder eine der frommen Frauen bei ihm wäre.
Zwischen Fässer und Sandsäcke geduckt, Ausschau haltend nach allen Seiten, bekommt er eine Vorstellung von dem, was auf dem Geviert zwischen den Kirchen und dem Sanktuarium vorgeht. Die Barrikade, die vor kaum zwei Tagen hinter dem Friedhof errichtet wurde, um die Kirche Santo Antônio zu schützen, ist gefallen, und die Hunde sind in die Häuser der Santa Inês eingedrungen, die an der Kirche vorbeiführt, und tun es noch. Denn aus dieser Gasse kommen die Leute, die in den Tempel zu flüchten versuchen, alte Männer, alte Frauen, Frauen, die ihre Kinder auf dem Arm, auf den Schultern tragen, an ihre Brust drücken. Aber noch viele Menschen in der Stadt leisten Widerstand. Ihm gegenüber, von den Türmen und den Gerüsten des Tempels aus, wird unablässig geschossen; der Löwe von Natuba kann die Funken sehen, mit denen die Jagunços das Pulver in ihren Musketen zünden, und die Einschläge, die alles, was um ihn ist, Steine, Ziegel, Holz, zertrümmern. Sicherlich ist João Abade nicht nur gekommen, um ihnen zu sagen, sie sollten weggehen, sondern auch, um die Männer der Katholischen Wachmannschaft vom Sanktuariumabzuziehen, und alle werden nun in der Santa Inês kämpfen oder eine neue Barrikade errichten und den Kreis noch ein wenig enger ziehen, von dem – und wie sehr zu Recht – der Ratgeber gesprochen hat. Wo stehen die Soldaten, von welcher Seite werden sie kommen? Wie spät am Vormittag oder Nachmittag ist es? Dichter werdender Staub und Rauch reizen seine Kehle und seine Augen, so daß er nur noch mühsam und hustend atmen kann.
»Und der Ratgeber? Und der Ratgeber?« hört er fast an seinem Ohr jemand sagen. »Ist es wahr, daß er aufgestiegen ist in den Himmel, daß ihn die Engel geholt haben?« In dem runzligen Gesicht der kleinen Alten, die auf dem Boden liegt, steht nur noch ein einziger Zahn, und ihre Augen sind von Grind verklebt. Sie scheint unverletzt, aber am Ende ihrer Kräfte zu sein.
»Er ist aufgestiegen«, nickt der Löwe von Natuba, der genau erfaßt, daß dies das Beste ist, was er in diesem Augenblick für sie tun kann. »Die Engel haben ihn geholt.«
»Werden sie auch kommen und meine Seele holen, Löwe?« flüstert die Alte.
Wieder nickt der Löwe mehrmals. Die Alte lächelt ihn an, ehe sie mit offenem Mund still liegen bleibt. Jäh nehmen die Schießerei und das Gebrüll neben der eingestürzten Kirche Santo Antônio zu, und dem Löwen von Natuba ist, als ginge ein Hagel von Schüssen dicht über seinen Kopf hinweg und als schlügen viele Kugeln in die Säcke und Fässer der Barrikade ein, hinter der er Schutz sucht. Er bleibt liegen, schließt die Augen, wartet.
Als der Lärm nachläßt, hebt er den Kopf und späht zu den Schutthaufen hinüber, den Überresten des vor zwei Tagen eingestürzten Glockenturms von Santo Antônio. Es läuft ihm heiß durch die Brust. Da sind sie, da sind sie, bewegen sich auf den Steinen, schießen auf den Tempel des guten Jesus, feuern in die Menschenmenge, die in die Kirche drängt und die nun, da sie die Soldaten erblickt und die Schüsse spürt, nach ein paar Sekunden der Unschlüssigkeit wie eine wildgewordene Herde auf die Gottlosen zurennt, die Hände ausgestreckt, die Gesichter entstellt von Zorn, Empörung und Rachegelüsten. In Sekundenschnelle verwandelt sich der Kirchplatz in einSchlachtfeld, auf dem Mann gegen Mann gekämpft wird, und in dem Staub, der alles verschwimmen läßt, sieht der Löwe von Natuba Paare und Gruppen ringen und sich auf dem Boden wälzen, sieht Säbel, Bajonette, Jagdmesser, Macheten, hört Gebrüll, Beschimpfungen, Hochrufe auf die Republik, Schmährufe auf die Republik, Hochrufe auf den Ratgeber, auf den guten Jesus, auf Marschall Floriane. Jetzt sind außer den alten Leuten und den Frauen auch Jagunços im Gemenge, Männer der Katholischen Wachmannschaft, die von der anderen Seite des Kirchplatzes herübergekommen sind. Er glaubt, João Abade zu erkennen und weiter drüben, in der dunklen Gestalt, die mit der Pistole in der einen Hand und der Machete in der anderen vorstürmt, João
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