Der Krieg am Ende der Welt
Grande oder vielleicht Pedrão. Die Soldaten stehen nun auch auf dem eingebrochenen Dach der Kirche Santo Antônio, da, wo vor kurzem noch die Jagunços standen: da sind ihre Mützen, ihre Uniformen, ihre Koppeln. Und endlich begreift er, was einer von ihnen, der fast im Leeren schwebt, auf dem abgebrochenen Vordach an der Fassade tut. Er stellt eine Fahne auf. Sie haben eine Fahne der Republik über Belo Monte gehißt.
Eben stellt er sich vor, was der Ratgeber gesagt, gefühlt hätte, wenn er diese Fahne hätte wehen sehen, die jetzt freilich schon Löcher hat, da die Jagunços von den Dächern, Türmen und Gerüsten des Tempels aus sofort auf sie gefeuert haben, – da sieht er den Soldaten, der auf ihn zielt und gleich abschießen wird.
Er stellt sich nicht auf, flieht nicht, rührt sich nicht, wie ein kleiner Vogel, denkt er, den die Kobra auf dem Baum hypnotisiert, ehe sie ihn schluckt. Immer noch zielt der Soldat auf ihn, und der Löwe weiß, daß er abgedrückt hat: er hat die Schulter unter dem Rückstoß des Kolbens zucken sehen. Durch den Staub, den Pulverdampf sieht er den Glanz in den kleinen Augen des Mannes, der nun zum zweitenmal zielt, dieses Aufleuchten vor Befriedigung, daß der andere ihm ausgeliefert ist, die wilde Freude zu wissen, daß er ihn diesmal treffen wird. Da wird er mit einem Ruck von der Stelle gerissen, wo er war; und zu springen, zu laufen gezwungen, obwohl er halb verrenkt ist von dem eisernen Griff, der seinen Arm umschließt. Es ist João Grande, der auf die Campo Grande deutet und schreit:»Dahin, dahin, in die Menino Jesus, in die Santo Eloi, die São Pedro. Dort halten die Barrikaden. Lauf, geh dahin.«
Er läßt ihn los und verschwindet in dem Gewühl zwischen den Kirchen und dem Sanktuarium. Frei von der Hand, die ihn hochhielt, fällt der Löwe platt auf den Boden. Aber nur einen Augenblick bleibt er liegen, nur bis er seine Knochen wieder zurechtgeschüttelt hat, die vom Laufen wie ausgekugelt sind. Es ist, als hätte der Stoß, den ihm der Chef der Katholischen Wachmannschaft gab, einen heimlichen Motor in ihm in Gang gesetzt, denn der Löwe von Natuba setzt sich in Trab zwischen den Schutthaufen und dem Unrat dessen, was einmal die Campo Grande war, die einzige Straße, die ihrer Breite und ihres geraden Verlaufs wegen diesen Namen verdiente und die jetzt wie die anderen Straßen ein Feld voller Löcher und Trichter ist, übersät mit Trümmern und Leichen. Er sieht nichts von dem, was er hinter sich läßt, was er, dicht auf den Boden gedrückt, umgeht, er fühlt nicht, daß er sich an Steinen und Glassplittern aufschürft, stößt, sticht: alles in ihm ist konzentriert auf die Aufgabe, dahin zu gelangen, wohin er gehen soll, in die Menino Jesus, die Santo Eloi, die São Pedro Mártir, dieses Geschlängel von Gassen, das sich bis zur Madre Igreja hinzieht. Dort wird er in Sicherheit sein, dort wird er weiterleben. Aber als er an der dritten Ecke der Campo Grande abbiegt in die Gasse, die einmal die Menino Jesus war und die jetzt ein befestigter Laufgraben ist, hört er Gewehrsalven und sieht rötliche, gelbliche Flammen und graue Rauchspiralen zum Himmel aufsteigen. Neben einem umgestürzten Karren und einer Bretterwand, dem letzten Rest eines Hauses, hockt er sich nieder, zögert. Hat es Sinn, diesen Flammen, diesen Kugeln entgegenzugehen? Soll er nicht lieber umkehren? Weiter oben, wo sich die Menino Jesus und die Madre Igreja überschneiden, sieht er Gestalten, kleine Gruppen, die mit knappen Bewegungen ohne Eile hin und her gehen. Dort ist die Barrikade. Besser, er geht dorthin, besser, dort zu sterben, wo andere Menschen sind.
Aber er ist nicht so allein, wie er glaubt, denn als er in kleinen Sprüngen die Menino Jesus hochläuft, dringt rechts und links, gerufen, geschrien, sein Name aus der Erde. »Löwe! Löwe! Komm hierher! Such Deckung, Löwe, versteck dich, Löwe!«Wo? wo? Er sieht niemand und springt weiter über Erdhaufen, Ruinen, Abfälle, an Leichen vorbei, offenen Bäuchen, aus denen Eingeweide hervorquellen, an Fleischklumpen, vor Stunden von Kartätschen abgerissen, vielleicht schon vor Tagen, nach dem Gestank zu schließen, der ihn umgibt und ihn ebenso würgt wie der Rauch, der ihm entgegenschlägt und ihm Tränen in die Augen treibt. Und plötzlich sind Soldaten da. Sechs: drei mit Fackeln, die sie in eine Büchse tauchen, die ein anderer ihnen hinhält und in der Kerosen sein muß, denn sie zünden sie an, nachdem sie sie getränkt haben, und
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