Der Krieg am Ende der Welt
Rauchzungen sieht er sieben, acht hoffende Gesichter.
»Er ist aufgestiegen«, hustet der Löwe von Natuba. »Die Engel haben ihn geholt.«
Unter einem neuen Hustenanfall schließt er die Augen und krümmt sich. In dieser Verzweiflung, die der Mangel an Luft ist, diesem Gefühl, daß die Lungen sich weiten und leiden, weil sie nicht bekommen, wonach sie verlangen, denkt er, daß dies das Ende sein wird und daß er nicht in den Himmel aufsteigen wird, denn nicht einmal jetzt kann er an den Himmel glauben, und wie im Traum hört er die Jagunços husten, diskutieren und endlich beschließen, daß sie hier nicht bleiben könnten, da das Feuer auf dieses Haus überspringen werde. »Wir gehen, Löwe«, hört er. »Bück dich, Löwe«, und er, der die Augen nicht aufmachen kann, streckt die Hand aus und fühlt, daß einer sie nimmt und zieht und ihn mit fortschleppt. Wie lange läuft er so, blind, halb erstickt, an Wände, Pflöcke, Menschen stoßend, die ihm den Weg versperren, so daß er von einer Seite auf die andere geschleudert wird in dem engen, gewundenen unterirdischen Gang, in dem von Zeit zu Zeit jemand ihm hilft, in einem Erdloch in einem der Häuser aufzutauchen und Luft zu schöpfen, um ihn dann wieder unter die Erde zu ziehen und weiterzuschleppen? Vielleicht Minuten, vielleicht Stunden, aber den ganzen Weg über arbeitet sein wacher Verstand, tausend Dinge bedenkt er, tausend Bilder ruft er sich ins Gedächtnis zurück, und seinem kleinen, schwächlichen Körper befiehlt er, wenigstens bis zum Ausgang des Tunnels durchzuhalten, erstaunt, daß sein Körper ihm gehorcht und nicht in Stücke springt, wie es seinem Gefühl nach jeden Augenblick geschehen müßte.Plötzlich läßt ihn die Hand los, die ihn hielt, und er fällt weich in sich zusammen. Sein Kopf wird explodieren, sein Herz wird explodieren, das Blut in seinen Adern wird explodieren und seinen zerschundenen Leib durch die Luft wirbeln. Doch nichts davon geschieht, und nach und nach beruhigt, faßt er sich, fühlt, daß eine weniger verpestete Luft ihm gradweise das Leben zurückgibt. Er hört Stimmen, Schüsse, ein wildes Hin und Her. Er reibt sich die Augen, wischt sich den Ruß von den Lidern und stellt fest, daß er in einer Wohnung ist, nicht im Erdloch, sondern auf dem Fußboden, und ringsum sitzen Jagunços und Frauen mit kleinen Kindern auf dem Schoß, und er erkennt den Mann, der früher die Feuerwerke vorbereitet hat, Antônio Fogueteiro.
»Antônio, Antônio, was ist los in Canudos?« sagt der Löwe von Natuba. Aber aus seinem Mund dringt kein Laut. Hier sind keine Flammen, nur dichter Staub, der alles gleichmacht. Die Jagunços sprechen nicht, sie wischen ihre Gewehre aus, laden ihre Flinten und spähen abwechselnd nach draußen. Warum kann er nicht sprechen, warum hat er keine Stimme? Auf Ellenbogen und Knien rutscht er zum Feuerwerker und hängt sich an seine Beine. Der hockt sich zu ihm nieder, während er seine Waffe lädt.
»Hier haben wir sie aufgehalten«, erklärt er ihm mit teigiger, durchaus nicht erregter Stimme. »Aber über den Friedhof und die Santa Ines sind sie in die Madre Igreja eingefallen. Sie sind überall. João Abade will in der Menino Jesus eine Barrikade errichten und eine in der Santo Eloi, damit sie uns nicht in den Rücken fallen.«
Der Löwe sieht deutlich diesen letzten Kreis, der Belo Monte geworden ist: die winkligen Gassen São Pedro Mártir, Menino Jesus und Santo Eloi. Es ist nicht einmal der zehnte Teil dessen, was Canudos einmal war.
»Heißt das, daß sie den Tempel des guten Jesus genommen haben«, sagt er, und diesmal gehorcht ihm die Stimme.
»Er ist eingestürzt, während du geschlafen hast«, antwortet der Feuerwerker mit der gleichen Ruhe, als spräche er vom Wetter.
»Der Turm ist gefallen, das Dach eingebrochen. Bis nach Trabubú und Bendengó muß der Krach zu hören gewesen sein. Aber dich hat er nicht geweckt, Löwe.«»Ist es wahr, daß der Ratgeber zum Himmel aufgestiegen ist?« unterbricht ihn eine Frau, die spricht, ohne Mund oder Augen zu bewegen.
Der Löwe antwortet ihr nicht: im Geist hört, sieht er diesen riesigen Berg von Steinen zusammenbrechen und die Männer mit den blauen Tüchern und Armbinden wie Regen herunterprasseln auf die Massen der Verwundeten, Kranken, Alten, Gebärenden, Neugeborenen, er sieht die frommen Frauen erschlagen, zerquetscht, sieht Maria Quadrado, verwandelt in einen Haufen Fleisch und zerbrochener Knochen.
»Die Mutter der Menschen sucht dich
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