Der Krieg am Ende der Welt
schützend vors Gesicht hebt. In der Hütte steht Jurema, eine zitternde Gestalt, das Kleid zerrissen, der Mund halb offen, die Augen voller Tränen, das Haar zerzaust. Verstört blickt sie auf dieUnordnung ringsum, als ob sie nicht begreifen könnte, was in ihrem Haus geschieht, und als sie Gall sieht, läuft sie auf ihn zu und wirft sich ihm an die Brust, Worte stammelnd, die er nicht versteht. Er bleibt stehen, steif, mit leerem Kopf. Er spürt die Frau an seiner Brust, ratlos, ängstlich betrachtet er diesen Körper, der an seinen drängt, diesen unter seinen Augen zuckenden Nacken. Er riecht ihren Geruch, und irgendwie kann er noch denken: Es ist der Geruch einer Frau. Seine Schläfen pochen. Mit Mühe hebt er einen Arm, legt ihn Jurema um die Schulter. Er läßt den Revolver los, den er noch in der Hand hielt, und seine Finger glätten ungeschickt das wirre Haar. »Mich wollten sie töten«, flüstert er Jurema ins Ohr. »Die Gefahr ist vorüber, sie haben sich schon geholt, was sie haben wollten.« Die Frau beruhigt sich. Das Schluchzen hört auf, das Zittern ihres Körpers; ihre Hände lösen sich von Gall. Doch er hält sie immer noch, streichelt noch immer ihr Haar, und als Jurema sich zu entfernen versucht, hält er sie zurück. »Don’t be afraid«, stammelt er, eilig blinzelnd. »They are gone. They ...« Etwas Neues, Zweideutiges, Drängendes, Intensives ist in seinem Gesicht erschienen, etwas, das zeitweilig zunimmt und dessen er sich kaum bewußt ist. Er hat seine Lippen ganz nahe an Juremas Hals. Sie tritt einen Schritt zurück, während sie sich gleichzeitig die Brust bedeckt. Nun bietet sie ihre Kraft auf, um sich von Gall loszumachen, doch der gibt sie nicht frei, und während er sie festhält, murmelt er abermals den gleichen Satz, den sie nicht versteht: »Don’t be afraid, don’t be afraid.« Jurema schlägt mit beiden Händen auf ihn ein, kratzt ihn, kann sich losmachen und entkommen. Aber Gall läuft ihr durch das Zimmer nach, erwischt sie, packt sie und fällt, über einen alten Koffer stolpernd, mit ihr zu Boden. Jurema strampelt, sie kämpft aus allen Kräften, doch ohne zu schreien. Nur beider abgerissenes Keuchen ist zu hören, das Geräusch des Ringens, das Gackern der Hühner, das Schellengeläut. Zwischen bleigrauen Wolken kommt die Sonne hervor.
Er kam mit viel zu kurzen Beinen und einem riesigen Kopf auf die Welt, so daß die Nachbarn in Natuba dachten, es wäre für ihn und seine Eltern besser, wenn der gute Jesus ihn bald zusich nähme, denn bliebe er am Leben, würde er verkrüppelt sein und blöde. Nur das eine traf zu. Denn obgleich der jüngste Sohn des Zureiters Celsestino Pardinas nie so wie andere Menschen gehen konnte, war er von durchdringender Intelligenz, wißbegierig und fähig, eine Erkenntnis, wenn sie erst einmal in diesen Riesenkopf eingegangen war, für immer zu behalten. Alles an ihm war ungewöhnlich: daß er in einer völlig normalen Familie verkrüppelt geboren wurde, daß er, obwohl ein elender Kümmerling, weder starb noch auch an Krankheiten litt, daß er statt wie Menschen auf zwei Füßen auf allen vieren lief und sein Kopf dermaßen wuchs, daß es ein Wunder schien, daß sein kleiner Körper ihn überhaupt tragen konnte. Doch Anlaß zu dem Getuschel der Leute, daß er nicht vom Zureiter, sondern vom Teufel gezeugt worden sei, war der Umstand, daß er lesen und schreiben lernte, ohne daß irgend jemand es ihm beigebracht hätte.
Weder Celestino noch Dona Gaudência hatten sich die Mühe gemacht – wahrscheinlich dachten sie, es wäre zwecklos –, ihn zu Seu Asênio zu schicken, der Ziegel brannte und daneben ein wenig Portugiesisch, ein paar Brocken Latein und ein bißchen Religion unterrichtete. Fest stand, daß eines Tages der Briefträger kam und am Schwarzen Brett auf dem Hauptplatz einen Erlaß anschlug, den laut vorzulesen er sich mit der Entschuldigung ersparte, er müsse ihn bis Sonnenuntergang noch in zehn weiteren Ortschaften anschlagen. Die Leute versuchten die Hieroglyphen zu entziffern, als sich vom Boden her die Stimme des Löwen vernehmen ließ: »Da steht, daß Seuchengefahr für die Tiere besteht, daß die Ställe mit Kalk desinfiziert und alle Abfälle verbrannt und Wasser und Milch vor dem Trinken abgekocht werden müssen.« Seu Asênio bestätigte, daß ebendies in dem Erlaß stand. Von den Leuten bedrängt, er solle sagen, wer ihm das Lesen beigebracht habe, gab der Löwe eine Erklärung, die vielen verdächtig erschien: Er
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