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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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habe es durch Zusehen bei denen gelernt, die es konnten, bei Seu Asênio, bei dem Polier Felisbelo, dem Heilkundigen Seu Abelardo und dem Klempner Zósimo. Keiner von diesen hatte ihm Unterricht erteilt, aber alle vier erinnerten sich, den großen struppigen Kopf und die inquisitorischen Augen des Löwen neben dem Hocker gesehen zu haben, auf dem sie für andere Briefe lasenoder nach Diktat schrieben. Tatsache war, daß der Löwe es gelernt hatte und daß man ihn von dieser Zeit an zu allen Stunden im Schatten der Jasminbäume von Natuba Zeitungen, Andachtsbücher, Meßbücher, Erlasse und alles Gedruckte, das er sich beschaffen konnte, lesen sah. Schließlich wurde er derjenige, der mit eigenhändig geschnittener Gänsefeder und Tinte aus Koschenille und Pflanzensaft in großen harmonischen Buchstaben die Geburtstagsglückwünsche, die Todes-, Hochzeits- und Geburtsanzeigen schrieb und auch die scherzhaften Sprüche, die die Einwohner von Natuba durch den Postreiter, der einmal die Woche kam, in andere Ortschaften verschickten. Der Löwe las ihnen auch die Briefe vor, die sie geschickt bekamen. Er machte den Schreiber und den Vorleser für die anderen zu seinem Vergnügen, ohne etwas dafür zu verlangen. Manchmal erhielt er Geschenke für solche Dienste.
    Er hieß nicht Leão, sondern Felício, aber wie so oft in dieser Gegend verdrängte der Spitzname, sobald er sich eingebürgert hatte, den eigentlichen Namen. Sie nannten ihn Löwe vielleicht aus Spott, sicher wegen des gewaltigen Kopfes, der sich später, wie um den Spöttern recht zu geben, mit einer dichten Mähne bedeckte, die ihm über die Ohren fiel und im Takt seiner Bewegungen schwang. Oder auch seiner unzweifelhaft tierischen Gangart wegen, da er sich gleichzeitig auf Füße und Hände stützte (die er mit Ledersohlen wie mit Hufeisen oder Hufen schützte), obgleich er mit seinen kurzen Beinen und langen Armen, die er wechselweise auf die Erde setzte, mehr an die Gestalt eines Affen als an die eines Löwen erinnerte. Er war nicht immer so gebückt: für eine Weile konnte er sich auf die Füße stellen und ein paar Schritte auf seinen lächerlichen Beinen gehen, aber beides ermüdete ihn rasch. Wegen seiner absonderlichen Gangart trug er nie Hosen, sondern Kleider wie Frauen und Missionare oder die Büßer des guten Jesus.
    Obwohl ihnen der Löwe ihre Korrespondenz erledigte, akzeptierten ihn die Leute im Dorf nie ganz. Wenn schon seine eigenen Eltern kaum ihre Scham verbergen konnten, ein solches Wesen gezeugt zu haben, und eines Tages ihn wegzuschenken versuchten – wie hätten die Frauen und Männer von Natuba diese Kreatur als ihresgleichen betrachten sollen? Seine zwölf Brüder und Schwestern mieden ihn, und es war bekannt, daß ernicht mit ihnen am Tisch, sondern abseits an einer Kiste aß. So lernte er weder die elterliche noch die Geschwisterliebe kennen (obwohl er von der anderen Liebe offenbar etwas erriet), noch auch die Freundschaft, denn die Buben seines Alters hatten erst Angst vor ihm und später Ekel. Sie bewarfen ihn mit Steinen und beschimpften ihn, wenn er es wagte, ihren Spielen nahe zu kommen. Doch versuchte er das selten. Von klein an lehrte ihn ein feines Gespür oder eine untrügliche Intelligenz, daß die anderen ihm gegenüber immer widerwillig oder mißgünstig sein würden, oft auch Henker, so daß er sich besser von allen fernhielt. Und das tat er auch, wenigstens bis zu dem Vorfall am Wassergraben, und überall, selbst auf Volksfesten, sahen ihn die Leute vorsichtig Abstand halten. Wenn in Natuba die heilige Messe gelesen wurde, hörte der Löwe die Predigt auf dem Dach der Kirche Nossa Senhora da Conceição, wie eine Katze. Aber nicht einmal die Strategie der Absonderung enthob ihn der Schrecken. In einen der schlimmsten versetzte ihn der Zirkus des Zigeuners. Zweimal im Jahr kam er mit seiner Karawane von Monstern, Akrobaten, Wahrsagern, Troubadouren und Clowns nach Natuba. Einmal bat der Zigeuner den Pferdebändiger und Dona Gaudência, sie sollten ihm den Löwen mitgeben, er wolle einen Zirkusmenschen aus ihm machen. »Mein Zirkus ist der einzige Ort, wo er nicht auffallen wird«, sagte er, »und er kann sich nützlich machen.« Sie willigten ein. Er nahm ihn mit, doch eine Woche später war der Löwe ausgerissen und lebte wieder in Natuba. Von nun an war er, jedesmal wenn der Zirkus kam, von der Bildfläche verschwunden.
    Mehr als alles andere fürchtete er die Betrunkenen, diese Viehtreiberbanden, die abends nach

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