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Der Krieg am Ende der Welt

Der Krieg am Ende der Welt

Titel: Der Krieg am Ende der Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mario Vargas Llosa
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Kopf bis Fuß. Wirst du sterben, Gall? Plötzlich dachte er an den Schnee in Europa, an die im Vergleich zu dieser ungezähmten Natur so brave Landschaft. Er dachte: Gibt es in Europa eine ähnlich feindselige Geographie? Im Süden Europas, in der Türkei sicher, auch in Rußland. Er dachte an die Flucht Bakunins, nachdem er elf Monate lang an eine Gefängnismauer gefesseltgewesen war. Sein Vater hatte es ihm erzählt, als er noch auf seinen Knien saß: der ungeheure Marsch durch Sibirien, der Amur, Kalifornien, wieder Europa, und bei seiner Ankunft in London die phantastische Frage: Gibt es hier frische Austern? Er dachte an die Gasthäuser an allen Straßen Europas, in denen es immer einen rauchenden Schornstein gab, eine warme Suppe und andere Reisende, mit denen man eine Pfeife rauchen und den Tag besprechen konnte. Er dachte: Heimweh ist eine Feigheit, Gall.
    Er überließ sich dem Selbstmitleid und der Melancholie. So eine Schande, Gall! Hast du nicht einmal gelernt, mit Würde zu sterben? Ob in Europa, Brasilien oder einem anderen Fleck Erde, was tat es? War das Ergebnis nicht dasselbe? Er dachte: Die Zersetzung, der Zerfall, die Verwesung, die Würmer, und wenn keine hungrigen Tiere kamen, ein zerbrechliches gelbes Knochengerüst unter vertrockneter Haut. Er dachte: Du glühst und kommst um vor Kälte, und das nennt man Fieber. Es war weder die Angst noch die Kugel für die Spatzenjagd, noch der Messerstich: es war eine Krankheit. Denn das Übel hatte schon vor dem Angriff des Mannes im Lederzeug begonnen, als er noch mit Epaminondas Gonçalves auf dessen Landgut war: in aller Stille hatte es ein Organ befallen und sich auf den übrigen Organismus ausgedehnt. Er war nicht schwer verwundet, er war krank. Noch etwas Neues, Kamerad. Er dachte: Das Schicksal möchte durch neue Erfahrungen deine Erziehung vervollständigen, ehe du stirbst. Zuerst Vergewaltiger, dann krank! Denn nicht einmal in seiner frühesten Kindheit erinnerte er sich, jemals krank gewesen zu sein. Verwundet schon, mehrmals, und damals in Barcelona schwer. Aber krank nie. Er hatte das Gefühl, daß er jeden Moment das Bewußtsein verlieren konnte. Wozu die sinnlose Anstrengung, immer noch zu denken? Weshalb diese Vorstellung, daß er am Leben sein würde, solange er dachte? Ihm war, als sei Jurema fortgegangen. Zu Tode erschrocken horchte er: da, rechts von ihm, war noch ihr Atem. Er konnte sie nicht mehr sehen, weil das Feuer endgültig erloschen war.
    Obwohl er wußte, daß es nutzlos war, versuchte er sich Mut zu machen: »Widrige Umstände stimulieren den echten Revolutionär«, murmelte er, er sagte sich, er werde einen Brief an L’Etincelle de la révolte schreiben, in welchem er die Ereignisse von Canudos mit der Ansprache Bakunins an die Uhrmacher und Handwerker von La Chaux-de-Fonds und aus dem Tal Saint-Imier verbinden würde, in der Bakunin behauptet hatte, die großen Erhebungen fänden nicht in den industrialisierten Gesellschaften statt, wie Marx vorhergesagt hatte, sondern in den rückständigen Agrarstaaten, in denen die Massen verelendeter Bauern nichts zu verlieren hatten, wie Spanien, Rußland und – warum nicht? – Brasilien, und er versuchte, gegen Epaminondas Gonçalves zu wettern: »Du wirst dich täuschen, Bourgeois. Du hättest mich töten sollen, solange ich dir ausgeliefert war, auf der Terrasse des Landguts. Ich werde gesund werden und dir entkommen.« Er würde gesund werden und entkommen, die Frau würde ihm den Weg zeigen, er würde sich ein Reittier stehlen, und in Canudos würde er gegen das kämpfen, was du, Bourgeois, verkörperst: den Egoismus, den Zynismus, die Machtgier und ...

Zwei

I
    Die Hitze hat mit Einbruch der Nacht nicht nachgelassen und, anders als in anderen Sommernächten, bewegt sich kein Lüftchen, Salvador schmort im Finstern. Alles ist dunkel, denn auf Anordnung des Stadtrats werden um zwölf die Straßenlaternen gelöscht, und auch in den Häusern der Nachtschwärmer sind die Lampen schon seit geraumer Zeit ausgegangen. Nur die Fenster des Jornal de Notícias in der Oberstadt sind noch hell, und im Lichtschein ist die gotische Schrift, in welcher der Name der Zeitung über der Eingangstür steht, noch verschnörkelter.
    Vor der Tür wartet eine Kalesche, Kutscher und Pferd schlafen einträchtig. Doch Epaminondas Gonçalves’ Capangas sind wach, sie rauchen, an die Gartenmauer gelehnt. Sie unterhalten sich halblaut und deuten auf etwas da unten, wo man nur noch die Mole vor der Kirche

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