Der Krieg am Ende der Welt
Nossa Senhora da Conceição da Praia und den weißen Saum der Brandung erkennen kann. Die Polizeistreife ist eben vorbeigeritten und wird bis zum frühen Morgen nicht mehr kommen.
Drinnen im Redaktions- und Geschäftsraum sitzt dieser junge, magere, schlottrige Journalist, dessen dicke Brillengläser, Niesanfälle und Manie, mit einem Gänsekiel statt mit einer Metallfeder zu schreiben, ständig den Spott der Angestellten herausfordern. Über sein Pult gebeugt, den unförmigen Kopf in den Schein der Lampe getaucht, in einer Haltung schräg zum Pult, die ihn bucklig macht, schreibt er eilig, sich nur unterbrechend, um die Feder ins Tintenfaß zu tauchen oder ein Notizheft zu konsultieren, das er sich dicht vor die Brillengläser hält. Das Kratzen der Feder ist das einzige Geräusch in der Nacht. Das Meer ist heute nicht zu hören und die ebenfalls erleuchtete Direktion ist still, als wäre Epaminondas Gonçalves an seinem Schreibtisch eingeschlafen.
Doch als der kurzsichtige Journalist den letzten Punkt hinter seine Chronik setzt, rasch den großen Saal durchquert und das Büro des Chefs der Progressiven Republikanischen Partei betritt, erwartet ihn dieser mit offenen Augen. Er hat die Ellenbogen auf den Tisch gestützt, die Händeübereinandergelegt. Sein braunes, eckiges Gesicht, dessen Schnitt und Knochenbau noch markanter wirken durch jene innere Energie, die es ihm erlaubt, eine ganze Nacht in politischen Versammlungen zu verbringen und den nächsten Tag ohne ein Zeichen der Ermüdung zu arbeiten, entspannt sich, als ob er sagen wollte: Endlich.
»Fertig?« murmelt er.
»Fertig.« Der kurzsichtige Journalist reicht ihm das Bündel Blätter. Doch Epaminondas Gonçalves greift nicht danach.
»Lesen Sie es mir vor«, sagt er. »Ich kann es besser beurteilen, wenn ich es höre. Setzen Sie sich ans Licht.«
Als der Journalist zu lesen beginnt, überfällt ihn ein Niesen und noch eines und zuletzt eine ganze Salve, so daß er die Brille abnehmen und sich mit einem riesigen Taschentuch, das er wie ein Zauberkünstler aus dem Ärmel zieht, Mund und Nase bedecken muß.
»Es ist die Sommerfeuchtigkeit«, entschuldigt er sich, während er sich das stark gerötete Gesicht säubert.
»Ja«, unterbricht ihn Epaminondas Gonçalves. »Lesen Sie, bitte.«
II
»Ein geeintes Brasilien, eine starke Nation
JORNAL DE NOTÍCIAS
(Eigentümer: Epaminondas Gonçalves)
Bahia, den 3. Januar 1897
EXPEDITIONSKORPS MAJOR FEBRONIO DE BRITO IM SERTAO BEI CANUDOS GESCHLAGEN!
Neue Entwicklungen.
DIE PROGRESSIVE REPUBLIKANISCHE PARTEI BESCHULDIGT DEN GOUVERNEUR UND DIE AUTONOMISTISCHE PARTEI DER VERSCHWÖRUNG GEGEN DIE REPUBLIK ZUR WIEDERHERSTELLUNG MONARCHISCHER ZUSTÄNDE
Die Leiche des ›englischen Agenten‹
Eine Abordnung von Republikanern fährt nach Rio und verlangt Eingreifen des Bundesheeres gegen fanatische Umstürzler.
PATRIOTEN VON BAHIA RICHTEN EIN TELEGRAMM AN OBERST MOREIRA CESAR: ›RETTEN SIE DIE REPUBLIK!‹
Die Niederlage des aus Truppen des 9., 26. und 33. Infanterie-Regiments bestehenden Expeditionskorps unter dem Befehl von Major Febrônio de Brito sowie sich mehrende Anzeichen einer heimlichen Unterstützung der Fanatiker von Canudos seitens der englischen Krone und notorisch autonomistischer und monarchistischer Großgrundbesitzer lösten am Montag abend im Parlament von Bahia einen neuen Sturm aus.
In der Person ihres Präsidenten, S. Exz. des Herrn Abgeordneten Dom Epaminondas Gonçalves, beschuldigte die Progressive Republikanische Partei in aller Form den Gouverneur des Landes Bahia, S. Exz. Herrn Dom Luiz Viana, sowie die politischen Gruppen um den ehemaligen Minister des Kaiserreichs und Botschafter Pedros II., Baron de Canabrava, mit Unterstützung Englands die Rebellion von Canudos geschürt und die Aufständischen mit Waffen versorgt zu haben, um den Sturz der Republik herbeizuführen und die Monarchie wiederherzustellen.Die Abgeordneten der Progressiven Republikanischen Partei verlangten das sofortige Eingreifen der Bundesregierung in Bahia, um das im Keim zu ersticken, was S. Exz. der Herr Abgeordnete Dom Epaminondas Conçalves als die ›aufrührerische Verschwörung des einheimischen blauen Blutes und der Habsucht Albions gegen die Souveränität Brasiliens‹ bezeichnete. Andererseits wurde bekannt, daß eine Abordnung prominenter Persönlichkeiten Bahias nach Rio de Janeiro gereist ist, um Präsident Prudente de Moraes den dringenden Wunsch Bahias vorzutragen, er möge Einheiten des
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