Der Krieg der Ketzer - 2
uns schneller davonlaufen, als wir das erhofft hatten. Vor allem …« – nun drehte er sich wieder zu Merlin herum und blickte ihm geradewegs in die Augen – »… angesichts der Berichte, die uns aus dem Tempel und von Bischof Zherald hier in Tellesberg erreichen.«
»Ich weiß«, seufzte Merlin. Er beugte sich ein wenig vor, stützte die verschränkten Unterarme auf die Brustwehr, und seine Saphiraugen schienen ins Nichts zu starren, während er den Blick über das Hafenbecken schweifen ließ.
»Ich hoffe«, fuhr er dann fort, »dass die … Beunruhigung im Tempel sich ein wenig legen wird, wenn Pater Paityrs letzter Bericht erst einmal genügend Leser gefunden hat.«
»In einer vernunftbestimmten Welt würde wahrscheinlich genau das geschehen«, gab Gray Harbor zu bedenken. »Aber in einer Welt, in der Hektor und unser lieber Freund Nahrmahn der Kirche beständig immer weitere Lügen über uns ins Ohr flüstern, vermutlich eher nicht.«
Die Miene des Ersten Ratgebers war nun sehr grimmig, und Cayleb nickte in verbitterter Zustimmung.
»Halten Sie es für möglich, dass der Rat der Vikare offiziell Position dazu beziehen wird?«, fragte Merlin.
Obwohl er sich immer noch scheute, seine Sonden im Inneren des Tempels selbst zu platzieren, hatte er doch mittlerweile ein ausgezeichnetes Gespür dafür entwickelt, was in der Hierarchie der Kirche vor sich ging – dank seiner Möglichkeit, die Untergebenen der Vikare, die in Zion lebten, zu belauschen. Doch er hatte feststellen müssen, dass es nicht das Gleiche war, ob man hörte, was gesagt wurde, oder ob man wusste, was gedacht wurde. Und ebenso hatte er erkennen müssen, dass Gray Harbor und Haarahld deutlich besser die Realitäten der theokratischen Politik auf Safehold durchschauten als er.
»Wahrscheinlich nicht«, gab Gray Harbor nach kurzem Nachdenken zurück. »Zumindest nicht offen. Ihr eigener Intendant berichtet, dass wir nirgends die Ächtungen übertreten haben – und das ist ja schließlich auch wahr. Die Kirche kann so viele Dekrete und Befehle veröffentlichen, wie sie will – und niemand hat das Recht, ihr zu widersprechen! –, aber üblicherweise achtet der Rat sehr wohl darauf, nicht ›launisch‹ zu erscheinen. Das bedeutet natürlich nicht, dass die Vikare – oder zumindest die ›Vierer-Gruppe‹ – nicht alles tun werden, was ihnen erforderlich erscheint, aber traditionsgemäß haben sie es doch immer vorgezogen, dabei bedächtig vorzugehen und zuvor sämtliche Beweismittel zu begutachten. Nun, offiziell zumindest.«
Nun war es an Merlin, fragend eine Augenbraue zu heben, und wieder lachte Gray Harbor leise – es klang zugleich zynisch und zutiefst betrübt.
»Mutter Kirche sollte eigentlich über Dinge wie ›politische Macht‹ und ›Gier‹ erhaben sein, Merlin. Auf einige ihrer Priester trifft das auch zu – wie Pater Paityr beispielsweise, oder auch Bischof Maikel. Doch auf andere – wie Kanzler Trynair und seine Verbündeten in der ›Vierer-Gruppe‹ – eben nicht. Ich würde das niemals in Gegenwart anderer aussprechen, aber die Wahrheit ist nun einmal, dass selbst der Rat der Vikare heutzutage mehr um den Machterhalt und die Machtausübung besorgt ist, als um das Seelenheil der Menschen.« Bedächtig schüttelte er den Kopf, seine braunen Augen schauten blicklos in die Ferne, und Merlin spürte, wie sehr es ihn schmerzte, seinen eigenen Zynismus in Worte zu fassen, wenn es um die Bewahrer seines Glaubens ging. »Im Tempel werden durchaus gezielt entsprechende Überlegungen angestellt, und ebenso in den Bordellen und den Spielhöllen von Zion, und dabei wird ebenso sehr auf politische Zweckdienlichkeit geachtet wie auf die Grundlage aller Lehren der Heiligen Schrift, fürchte ich.«
»Sogar noch mehr«, setzte Cayleb rau hinzu. Merlin blickte ihn an, und die Augen des Kronprinzen wirkten dunkel und verbittert, als gingen ihm entsetzliche Erinnerungen durch den Kopf. »Es hat Zeiten gegeben«, fuhr der Prinz fort, »da war Mutter Kirche wirklich die Mutter für alle ihre Kinder. Doch diese Zeiten sind vorbei.«
Es gelang Merlin, seinen Gesichtsausdruck nüchtern und neutral zu halten, doch dies war das erste Mal, dass er gehört hatte, wie Cayleb oder Gray Harbor offen über die Kirche gesprochen hatten – selbst nach dieser Vernehmung durch Pater Paityr –, und Caylebs verbitterte Feststellung traf Merlin wie ein Schwall eisigen Wassers. Erst in diesem Augenblick erkannte er, wie berechtigt sämtliche Besorgnis
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