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Der Krieg der Trolle

Der Krieg der Trolle

Titel: Der Krieg der Trolle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christoph Hardebusch
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desto mehr hatte Camila den Eindruck, sich einem lebendigen Ort zu befinden, der ungezügelt wuchs und atmete. Hier lebten die Armen, die Tagelöhner, die Burlai, die von den Handelsschifffahrern auf dem Magy angeheuert wurden, um die schweren Lastkähne zu treideln, wie es seit ungezählten Jahrhunderten Brauch war.
    In diesen Vierteln war es niemals wirklich still, aber die schmalen Gassen waren um Mitternacht ebenfalls dunkel, und Camila begegnete kaum einer Handvoll Nachtschwärmer. Sie glitt durch das Gewirr der Hütten, ungesehen und ungehört, bis sie auch die letzten Behausungen – und damit die Stadt – hinter sich ließ.
    Der Wind brachte kalte Luft aus den Sorkaten mit sich, und sie zog ihren Umhang enger um die Schultern zusammen. Felder erstreckten sich vor ihr, so weit sie im Mondlicht sehen konnte. Die wachsende Anzahl von Menschen, die in Teremi lebten, musste versorgt werden, und an den Ufern des Magy gab es nun weite Äcker und Weiden, denn die wenigen Dörfer und Bauernhöfe im Hinterland konnten sie nicht allein ernähren. Und trotzdem musste noch ein Teil der Nahrung von weither über den Fluss gebracht werden.
    Camila folgte der breiten Straße, die entlang des Flusses nach Westen führte, bevor sie auf einen Feldweg zwischen zwei Äckern abbog. Die meisten bewirtschafteten Flächen waren durch niedrige Natursteinmauern voneinander getrennt, aber hier war stattdessen ein schmaler Trampelpfad, der offenbar viel genutzt wurde und geradewegs auf einen Baum zuführte, der schon von Weitem gut zu sehen war. Der Baum wirkte wie ein Fremdkörper inmitten der sorgsam gepflegten Felder, alt und groß, mit einer mächtigen Krone und knorrigen Ästen, die nach dem Himmel zu greifen schienen. Wie viele Jahrhunderte er bereits gesehen hatte, wusste Camila nicht, wohl aber, dass er schon dort gestanden hatte, als die Masriden in das Land gekommen waren. Vielleicht war er sogar älter als die Stadt; so weit zurück reichten die Legenden um ihn zwar nicht, aber damals musste der große, dunkle Wald des Landes noch bis hierhin gereicht haben, und er wäre damit ein Teil desselben gewesen.
    Als sie näher kam, konnte Camila den Schmuck sehen, mit dem Bauern und Reisende den Baum bedacht hatten, immer und immer wieder. Bunte Tücher waren um den mächtigen Stamm gewickelt, von den Ästen hingen Bänder herab, an denen Geschenke befestigt waren. Kleine Schalen standen zwischen den Wurzeln, in denen sich Wein oder Milch befunden haben mussten. Ein Rabe, der auf einem der unteren Äste saß, war damit beschäftigt, eines der Geschenke mit dem Schnabel hochzuziehen, um nachzusehen, ob es ihm schmackhaft erschien. Er beäugte die Geistseherin einige Momente lang misstrauisch, beschloss dann aber wohl, dass sie keine Bedrohung darstellte, und setzte sein Werk fort.
    Camila lächelte, als sie sich direkt am Stamm auf den Boden kniete und ihre Hände auf die raue Rinde legte. Sie schloss die Augen und verlangsamte ihre Atmung. Allmählich verschwand die Umgebung aus ihrem Bewusstsein, und die Geräusche der Nacht verklangen. Der kühle Wind aus dem Norden berührte sie nicht mehr, und ihr war auch nicht mehr kalt. Selbst das Licht des Mondes verblasste. Es war, als flösse sie durch ihre Handflächen in den Stamm, als verlagere sich ihr Bewusstsein von ihrem Körper in den Baum.
    Ein alter Geist wohnte in ihm. Die Geistseher hatten seine Anwesenheit früh bemerkt und den Baum vor dem Schicksal des übrigen Waldes bewahrt. Die Wlachaken ehrten den Geist, baten ihn um gute Ernten und günstiges Wetter, boten ihm Geschenke dar, so wie es die Bewohner des Landes zwischen den Bergen von Anbeginn der Zeit an getan hatten. Sie zollten ihm Respekt, wie es richtig war. Sie hatten das Wissen um seine Existenz geheim gehalten in den langen Jahren, da das Land von den Masriden besetzt gewesen war und zahlreiche ihrer heiligen Orte geschändet und vernichtet worden waren. Für viele war der Geist in dem alten Baum daraufhin nur noch Teil einer Geschichte gewesen, eines Märchens, oder gar Aberglaube. Nach dem Ende von Zorpads Herrschaft jedoch war das alte Wissen langsam zurückgekehrt. Und mit ihm die alten Bräuche.
    All diese Gedanken zogen durch Camilas Geist, bis sie sie verbannte und ruhig wurde. Das Glücksgefühl angesichts der Tatsache, dass dieser Baum noch stand, verschwand ebenso wie die Trauer über alles, was verloren war.
    Normalerweise fiel es Camila leicht, Kontakt mit dem Geist aufzunehmen, wenn sie sich erst

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