Der Krieg, der viele Vaeter gatte
Polen die Westukraine östlich der CurzonLinie, und die Rache tobt in umgekehrter Richtung. Ein Beobachter vor Ort, der französische Slawistikprofessor Martel, beschreibt die Gebietsübernahme der Ukraine durch die Polen etwas drastisch so:
„Es wurde erschossen, gehängt, gefoltert, eingesperrt, beschlagnahmt,
kurz, man amüsierte sich ganz wie in den guten alten Zeiten. Viele ukrai
nische Priester wurden hingerichtet. Um Überfüllungen zu vermeiden,
machten die Polen keine Gefangenen. ... Die Gefängnisse vom Lemberg
quellen über von Ukrainern aller Schichten ..., deren einziges Verbrechen
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darin bestand, Ukrainer zu sein oder ukrainisch zu sprechen."
Die Polen wissen, daß die Ukrainer in ihrem Land mit den Ukrainern in der benachbarten Sowjetunion einen eigenen Staat anstreben, zumindest jedoch eine Vereinigung. So schöpft man in Warschau den Verdacht, daß die polnischen Ukrainer Kommunisten oder Bolschewisten sind und mit den Sowjets paktieren. Nur 1933 und 34 entspannt sich die Lage in der polnischen Ukraine für eine Atempause, als Polen den Versuch macht, die „eigenen" Ukrainer und die in der Sowjetunion für eine Großukraine unter Polens Vorherrschaft zu gewinnen.
Dennoch bleibt der Haß beider Nationen aufeinander innerhalb des neuen Polen solange erhalten, bis die Sowjetunion das Land zurückerobert. 1930 schreibt Erzbischof Szeptyckyj, Metropolit der griechisch-katholischen Kirche von Lemberg, einen Brief an einen Freund, in dem er klagt:
„ Wir durchleben schreckliche Zeiten. Die Strafexpeditionen ruinieren
unsere Dörfer, unsere Schulen, unsere wirtschaftlichen Institutionen. Tau
sende von Dorfbewohnern, sechs Priester, Frauen, Intellektuelle wurden
geprügelt, oft bis sie das Bewußtsein verloren. Den Dörfern werden wie im
Krieg unmäßige Kontributionen und Requisitionen auferlegt. Polizei und
Armee führen gegen die friedliche, unschuldige Bevölkerung unseres un
glücklichen Landes einen wahren Krieg. Der Vorwand, man bekämpfe oder
unterdrücke nur Kommunisten und Terroristen, geht völlig fehl. Das ist nur
eine Fiktion. Es handelt sich um eine krisenhafte Zuspitzung eines Systems
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der Verfolgungen, das seit dem Jahre 1920 nicht mehr aufgehört hat."
Castellan, Seite 159 Castellan, Seite 161
Zu den großen Minderheiten Polens zählen des weiteren 2,5 Millionen Juden. Auch diese Gruppe wird polnischerseits als Problem betrachtet. Der polnische Historiker Halecki schreibt 1970 in seiner „Geschichte Polens":
„Die jüdische Frage wurde besonders brennend vor dem Zweiten Welt
krieg. Dies war eine sehr einschneidende Frage, wenn man bedenkt, daß
mehr als drei Millionen Juden -fast zehn Prozent der Gesamtbevölkerung
– über das ganze Land verstreut lebten, daß sie noch einen viel höheren
Prozentsatz in den Stadtbewohnern, im Handel und der Industrie und in
gewissen Berufen darstellten und daß nur eine unbedeutende Zahl von
ihnen wirklich assimiliert war. Unter diesen Umständen war das Aufkom
men einer antisemitischen Bewegung, aus wirtschaftlichen Gründen weit
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mehr als aus rassischen, fast unvermeidlich."
Zu den von Halecki genannten rassischen und wirtschaftlichen Gründen kommen wohl noch parteipolitische für die geringe Integration der Juden bei den Polen. Unter den Angehörigen der jüdischen Minderheit ist die Anhängerschaft der KP Polens offensichtlich besonders groß oder es bestehen zumindest Verdächtigungen, das dies so sei. Im März 1937 beklagt sich der polnische Ministerpräsident Skladkowski im Gespräch mit Professor Burckhardt, dem Hohen Kommissar des Völkerbunds in Danzig, daß „60% unserer Juden Kommunisten sind und 90% aller Kommunisten Juden." Kommunisten stehen in Polen stets unter dem Verdacht, Sympathisanten der ungeliebten Sowjetunion zu sein.
1935 setzt der polnische Außenminister Beck eine Arbeitsgruppe ein, die sich „mit der Judenfrage in Polen" befassen und Möglichkeiten zu ihrer Lösung finden soll. Der Zufall will es, daß die Entwicklung der Insel Madagaskar 1937 in Frankreich zum öffentlichen Thema wird. Man sucht Kolonisten, doch die Franzosen zeigen wenig Neigung, dorthin auszuwandern. Als Frankreichs Außenminister Delbos im Dezember 1937 einen Staatsbesuch in Warschau macht, nutzt sein Gastgeber Beck die Gelegenheit, Delbos zu fragen, „ob er einverstanden sei, daß alle polnische Juden auf die Insel Madagaskar auswanderten". Delbos geht darauf nicht weiter ein.
Auch Ministerpräsident
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