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Der Krieg, der viele Vaeter gatte

Der Krieg, der viele Vaeter gatte

Titel: Der Krieg, der viele Vaeter gatte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerd Schultze-Rhonhof
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Oberschlesiens befreit. Die Teilung erfolgt nun nach einem Vorschlag des italienischen Außenministers Graf Sforza mit einer neuen Trennungsgrenze – der Sforza-Linie -, so daß die deutsche und die polnische Minderheit im jeweils fremden Land in etwa zahlenmäßig ausgeglichen sind. Am 17. Juni 1922 scheidet Ost-Oberschlesien aus dem Reichsverbande aus. Der polnische Historiker Halecki wertet das Ergebnis dieser Auseinandersetzung so:
    „Frankreich allein begünstigte die polnischen Ansprüche, während Eng
    land und Italien Polen nur zwei landwirtschaftliche Bezirke zusprechen
    wollten. Schließlich wurde die Frage in einer Weise gelöst, die mit inter
    nationaler Gerechtigkeit am besten vereinbar war. ... Auf diese Weise
    gewann Polen auch einen beträchtlichen Teil der reichen industriellen
    Landstriche. ... Die neue polnische Provinz Schlesien war der einzige, ver-

    Baumfalk, Seite 180 Reichsgesetzblatt 1921, Seite 711

    Karte 28: Die Kämpfe um den Annaberg

    hältnismäßig kleine Teil der wiederhergestellten Republik, der die Grenzen der Zeit vor den (polnischen) Teilungen überschritt." 33

    In Deutschland wird die Abtretung des Industriegebiets und der überwiegend deutschen Städte jenseits der Sforza-Linie als schmerzlicher Verlust empfunden. Dies steht solange zwischen Deutschland und dem neuen Polen, bis Adolf Hitler

    Halecki, Seite 229

    die deutschen Forderungen auf Danzig und die Transitwege reduziert. Hitler bezieht keine seiner Forderungen auf Ost-Oberschlesien. Doch das französisch-polnische Zusammenspiel bei der Teilung und bei den Aufständen der Polen prägt das sicherheitspolitische Denken der deutschen Reichsregierungen und der jungen Reichswehr für die nächsten 20 Jahre. Fortan wird bei jeder Spannung und jedem Konflikt mit Frankreich zugleich die polnische Gefahr gesehen; bei jeder Auseinandersetzung mit Polen entsprechend die Bedrohung von Seiten der Franzosen. Reichswehr und Bevölkerung haben seitdem eine Vorstellung davon, daß eine Schwäche an Militär die Erpreßbarkeit des Staats bedeutet. Frankreichs Drohung, das Ruhrgebiet im Westen zu besetzen, wenn sich das Reich im Osten gegen fremde Annexionen wehrt, bleibt bis zum Zweiten Weltkrieg unvergessen. Die geheimen Rüstungsvorbereitungen vor 1933 und der schnelle Wiederaufbau der deutschen Streitkräfte ab 1935 bekommen in den Augen der Bevölkerung und der Soldaten ihre Legitimation aus dieser Erfahrung der frühen 20er Jahre.

    Polen kehrt 1919 als selbständige Nation auf die Bühne der europäischen Geschichte zurück. Doch es sucht seine neue Identität nicht in den von den Siegern des Ersten Weltkriegs vorgegebenen Grenzen. Die modernen Polen von 1919 träumen von dem alten Polen-Litauen von 1450. Sie beginnen ihre neueste Geschichte mit einer Serie selbstinszenierter Kriege. Das trägt ihnen nicht nur die Feindschaft aller ihrer Nachbarn ein, sondern das entwertet auch eine ganze Anzahl von Verträgen, die sie 1939 vielleicht hätten schützen können.

    Polen als Vielvölkerstaat

    Das neue Polen ist mit der Angliederung ehemals ukrainischer, weißrussischer, litauischer, tschechischer und deutscher Landesteile ein Vielvölkerstaat geworden. Die Bevölkerung des Landes besteht 1923 aus 30 Millionen polnischen Staatsbürgern, von denen 19 Millionen – das sind zwei Drittel – als Muttersprache Polnisch sprechen. 5 Millionen sind Ukrainer, 2,5 Millionen Juden, 2 Millionen Deutsche und 1,2 Millionen sind Weißrussen. Dazu kommen weitere Minderheiten litauischer, tschechischer oder ungarischer Herkunft sowie Kaschuben und Slonzaken. Im eroberten „Ostpolen" sind die Polen selber eine Minderheit. Auf 7,4 Millionen Ukrainer, Juden und Weißrussen kommen dort gerade einmal 1,5 Millionen Polen, also knapp ein Sechstel aller Menschen, die dort wohnen. 35

    Polen hat die Rechte seiner Minoritäten zunächst in dem zum Versailler Vertrag gehörenden Minderheitenschutzvertrag anerkennen und garantieren müssen. 36 Doch die Polen empfinden diesen Schutzvertrag als diskriminierend, weil er nur

    Castellan, Seiten 151 ff; die Zahlen sind aus den widersprüchlichen polnischen Statistiken in der
angegebenen Quelle abgeleitet
Info BpB, Heft 142, Seite 25
Minderheitenschutzvertrag vom 28. Juni 1919, sog. Minoritätenvertrag
    sie und nicht auch ihre Nachbarländer bindet. Polen tritt am 15. Mai 1922 außerdem der „Genfer Konvention zum Schutz von Minderheiten" bei. Auch die Verfassung des neuen Staates Polen garantiert den

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