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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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einen langen Zopf und war voller Schmutz ...«
    »Muss man denn unbedingt daran erinnern? Darüber schreiben? Dass unsere Krankenschwestern im Kessel geschossen haben, um die verwundeten Soldaten zu verteidigen, weil Verwundete hilflos sind wie Kinder, das verstehe ich. Aber so ein Bild: Zwei Frauen kriechen mit Scharfschützengewehren übers Niemandsland, um jemanden zu töten ... Ich kann mir nicht helfen, ich finde, das ist doch eine Art ›Jagd‹ ... Ich habe selbst geschossen ... Aber ich bin ja auch ein Mann ...«
    »Aber der Feind hatte ihr Land besetzt! Ihre Familie getötet.«
    »Nein ... Meine Frau als Scharfschützin – das kann ich mir nicht vorstellen. Mit so einer Frau wäre ich vielleicht auf Erkundung gegangen, aber ich hätte sie niemals geheiratet. Wir sind gewöhnt, die Frau als Mutter zu sehen, als Braut. Mein jüngerer Bruder hat mir erzählt, wie einmal gefangene Deutsche durch unsere Stadt geführt wurden, na, und die kleinen Jungs beschossen die Kolonne mit Gummischleudern. Unsere Mutter sah das und gab ihm eine Ohrfeige. Die da liefen, waren lauter Rotznasen, Hitlers letztes Aufgebot. Mein Bruder war erst sieben, aber er erinnert sich noch, wie die Mutter diese Deutschen ansah und weinte: ›Dass eure Mütter blind werden, wie konnten sie euch in den Krieg lassen!‹ Krieg ist Männersache. Gibt es denn nicht genug Männer, über die man schreiben kann?«
    »Das ist ungerecht. Denken Sie an die Katastrophe der ersten Kriegsjahre: Die Deutschen vor Moskau, der tödliche Blockadering um Leningrad ... Professoren gingen zur Volkswehr ... Leningrader Professoren ... Auch die Mädchen gingen freiwillig, und ein Feigling geht nicht von sich aus an die Front. Das waren mutige, außergewöhnliche Mädchen. Die Statistik belegt: Nach den Schützenbataillonen, der Infanterie, erlitten die Mediziner an vorderster Linie die zweithöchsten Verluste. Wissen Sie, was es bedeutet, einen Verwundeten vom Schlachtfeld zu holen? Das kann ich Ihnen erzählen ... Wir stürmten vor zum Angriff, und ein Maschinengewehr mähte uns nieder. Das ganze Bataillon. Alle lagen flach. Nicht alle tot, viele verwundet. Die Deutschen schossen weiter, das Feuer hörte nicht auf. Völlig überraschend sprang ein Mädchen aus dem Schützengraben, dann noch eins und noch eins ... Sie gingen die Verwundeten verbinden und zurückschleppen, sogar die Deutschen verstummten vor Staunen für eine Weile. Gegen zehn Uhr abends waren alle Mädchen schwer verwundet, und jede hatte höchstens zwei, drei Mann gerettet. Auszeichnungen bekamen sie selten, zu Kriegsbeginn war man damit überhaupt sehr knauserig. Zusammen mit dem Verwundeten musste seine Waffe zurückgeholt werden. Das war die erste Frage im Sanitätsbataillon: Wo ist die Waffe? Einundvierzig erschien der Befehl Nummer zweihunderteinundachtzig, über die Auszeichnung für die Rettung von Soldatenleben: für fünfzehn Schwerverwundete, mitsamt Waffe vom Schlachtfeld geholt, gab es die Medaille ›Für militärische Verdienste‹, für die Rettung von zwanzig Mann – den Orden Roter Stern, für vierzig Mann – den Rotbannerorden, für achtzig Mann – den Leninorden. Und ich habe Ihnen ja gerade beschrieben, was es bedeutete, auch nur einen Einzigen zu retten ... Im Kugelhagel ...«
    »Unsere Aufklärer wurden in ein Dorf geschickt, wo eine deutsche Garnison lag. Zwei gingen los. Dann noch einer ... Keiner kam zurück. Der Kommandeur rief ein Mädchen zu sich: ›Ljussja, du gehst.‹ Sie wurde eingekleidet wie eine Schäferin. Und zur Straße gebracht ... Was tun? Es gab keinen anderen Ausweg. Ein Mann wurde getötet. Eine Frau dagegen konnte durchkommen ...«
    »Kam das Mädchen zurück?«
    »Ich schäme mich, aber ich habe ihren Namen vergessen. Nur den Vornamen weiß ich noch: Ljussja. Sie kam nicht zurück ...«
    Alle schweigen lange. Dann bringt jemand einen Toast aus auf die Gefallenen. Das Gespräch wechselt in eine andere Richtung – es geht um Stalin, der vor dem Krieg die besten Kommandeurskader vernichtete. Die militärische Elite. Es geht um die brutale Kollektivierung siebenunddreißig. Um Lager und Verbannung. Ohne das Jahr siebenunddreißig hätte es das Jahr einundvierzig nicht gegeben. Deshalb mussten wir bis kurz vor Moskau zurückweichen und den Sieg so teuer bezahlen.
    »Gab es auch Liebe im Krieg?«, frage ich.
    »Ich habe an der Front viele schöne Mädchen getroffen, aber wir sahen in ihnen keine Frauen. Obwohl, ich finde, das waren wunderbare Mädchen.

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