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Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
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Nur zwei Uniformmäntel und zwei Feldblusen. Wir fanden eine Landkarte, eine gute Karte, aus Nessel. Wir weichten sie ein ... Dieses Stück Nessel wurde unser erstes Bettlaken. Später, als unsere Tochter geboren war, haben wir daraus Windeln gemacht. Aus dieser Karte ... Ich weiß es noch wie heute, es war eine politische Weltkarte ... Einmal kam mein Mann nach Hause: ›Komm, Mutter, da hat jemand ein altes Sofa weggeworfen ...‹ Wir gingen dieses Sofa holen – in der Nacht, damit uns niemand sah. Wie haben wir uns gefreut über dieses Sofa!
    Wir waren trotz allem glücklich. Ich hatte auf einmal so viele Freundinnen! Die Zeit war schwer, aber wir jammerten nicht. Wenn wir unsere Lebensmittelkarten eingelöst hatten, riefen wir uns gegenseitig an: ›Komm her, ich hab Zucker bekommen. Wir können Tee trinken.‹ Wir hatten nichts überm Kopf und nichts unterm Hintern, noch keiner hatte Teppiche, Kristall ... Nichts ... Aber wir waren glücklich. Glücklich, weil wir noch am Leben waren. Noch atmeten, lachten. Durch die Straßen liefen. Die Liebe wärmte uns. Irgendwie brauchten wir einander sehr, alle brauchten einander. Später, da war dann jeder für sich, in seiner Wohnung, bei seiner Familie, aber damals waren wir alle zusammen. Schulter an Schulter, wie im Schützengraben an der Front ...
    Vor kurzem habe ich im Museum vor jungen Italienern gesprochen. Sie haben mich lange ausgefragt, mir seltsame Fragen gestellt ... Bei was für einem Arzt ich in Behandlung war. Was für Krankheiten ich hatte. Aus irgendeinem Grund wollten sie wissen, ob ich bei einem Psychiater gewesen sei. Was ich träume. Ob ich vom Krieg träume. Die russische Frau, das sei für sie ein Rätsel. Außerdem wollten sie wissen, ob ich nach dem Krieg geheiratet hätte. Sie dachten nämlich – nein. Ich habe gelacht: ›Alle haben sich aus dem Krieg Trophäen mitgebracht, ich dafür meinen Mann. Ich habe eine Tochter. Und inzwischen auch Enkel.‹ Ich hab dir heute gar nichts von der Liebe erzählt. Wir haben nur vom Hass gesprochen. Na, von der Liebe ein andermal. Dann erzähle ich dir alles. Wie sich unser Bataillonskommandeur an der Front in mich verliebt hat. Den ganzen Krieg hat er mich nicht vergessen, nach der Entlassung hat er mich im Lazarett ausfindig gemacht. Na, davon später ... Komm mich besuchen, komm unbedingt. Du bist für mich wie eine zweite Tochter.
    Ich habe nur eine Tochter. Natürlich hätte ich gern mehr Kinder gehabt, aber dafür fehlte mir die Gesundheit, die Kraft. Auch studieren konnte ich nicht ... Ich war bis zur Rente Laborantin am Polytechnischen Institut, aber ich war sehr beliebt. Weil ich selbst voller Liebe war. Das war meine Auffassung vom Leben, nur so wollte ich nach dem Krieg leben ...
    Vor zwei Jahren besuchte mich unser Stabschef Iwan Grinko. Er ist schon lange in Pension. Hier an diesem Tisch hat er gesessen. Ich hatte auch Piroggen gebacken. Mein Mann und er unterhielten sich, tauschten Erinnerungen aus. Sie kamen auf die Mädchen zu sprechen. Auf einmal heulte ich los: ›Ehre sagt ihr, Respekt. Aber unsere Mädchen sind fast alle allein geblieben. Leben in Gemeinschaftswohnungen. Wer hat sich für sie eingesetzt? Sie beschützt?‹ Jedenfalls, ich hab ihnen die Festtagslaune gründlich verdorben ...
    Der Stabschef saß da, wo Sie jetzt sitzen. ›Zeig mir den‹, sagte er, ›der dich gekränkt hat. Zeig ihn mir!‹ Er bat um Verzeihung: ›Valja, dazu kann ich nichts sagen, dafür habe ich keine Worte, nur Tränen.‹ Aber man soll uns nicht bedauern. Wir sind stolz ... Und wenn sie die Geschichte noch zehnmal umschreiben. Mit Stalin oder ohne Stalin. Aber das bleibt uns: Wir haben gesiegt! Und unser Leid. Das, was wir durchgemacht haben ...«
    Bevor ich gehe, packt sie mir noch Piroggen ein. »Sibirische. Die sind was Besonderes.« Ich bekomme eine weitere lange Liste mit Adressen und Telefonnummern. »Sie werden sich alle freuen. Sie warten auf dich. Uns hat bisher noch niemand zugehört.«
    Sie haben so lange geschwiegen, dass auch ihr Schweigen Geschichte geworden ist.

»Wir bekamen nur kleine Medaillen«
    Meine Privatpost erinnert immer mehr an die Post eines Wehrkomitees oder eines Museums: »Grüße von den Fliegerinnen des Fliegerregiments von Marina Raskowa«, »Ich schreibe Ihnen im Auftrag der Partisaninnen der Brigade ›Shelesnjak‹«, »Glückwünsche von den Minsker Untergrundkämpferinnen. Wir wünschen Erfolg für die begonnene Arbeit ...«, »Soldatinnen der Bade- und

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