Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition)

Titel: Der Krieg hat kein weibliches Gesicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Swetlana Alexijewitsch
Vom Netzwerk:
sie dich an. Ich konnte sie nicht tragen, wenn die Augen offen waren, ich hab sie immer zugedeckt ...«
    »Sie brachten einen Verwundeten, vollständig verbunden, er hatte eine Kopfwunde, von seinem Gesicht war kaum was zu sehen. Nur ein kleines bisschen. Aber offenbar erinnerte ich ihn an jemanden, er sprach mich an: ›Larissa ... Larissa ... Lorotschka ...‹ Wahrscheinlich das Mädchen, das er liebte. Ich heiße zwar auch so, aber ich hatte diesen Mann noch nie gesehen, trotzdem rief er nach mir. Ich gehe zu ihm, sehe ihn an und begreife nicht recht. ›Du bist da, ja? Du bist da?‹ Ich nehme seine Hand, beuge mich zu ihm. ›Ich wusste, dass du kommst ...‹ Er flüstert etwas, aber ich verstehe nicht, was er sagt. Ich kann das gar nicht erzählen, wenn ich daran denke, kommen mir sofort die Tränen. Er sagt: ›Als ich an die Front ging, bin ich nicht mehr dazu gekommen, dich zu küssen. Küss mich ...‹
    Ich habe mich zu ihm hinuntergebeugt und ihn geküsst. Aus seinem Auge spritzte eine Träne und rann in den Verband. Dann war es aus. Er war tot ...«

Vom Tod und vom Staunen über den Tod
    »Die Menschen wollten nicht sterben. Wir reagierten auf jedes Stöhnen, auf jeden Schrei. Ein Verwundeter, als er spürte, dass er stirbt, umklammerte meine Schulter, hielt mich fest umarmt und ließ mich nicht weg. Er glaubte, wenn jemand bei ihm ist, wenn eine Schwester bei ihm ist, dann verlässt ihn das Leben nicht. Er bat: ›Wenigstens noch fünf Minuten leben. Noch zwei Minuten ...‹ Manche starben lautlos, still, andere schrien: ›Ich will nicht sterben!‹ Der Mensch stirbt, aber er glaubt es trotzdem nicht, er will nicht wahrhaben, dass er stirbt. Du siehst, wie er von den Haaren ab ganz gelb wird, wie ein Schatten kriecht ihm das Gelb erst übers Gesicht, dann unter die Kleidung ... Und dann liegt er tot da, und in seinem Gesicht spiegelt sich Erstaunen, als ob er denkt: Wieso bin ich gestorben? Bin ich wirklich tot?
    Solange er noch hört ... Bis zum letzten Moment sagst du zu ihm: Nein, nein, du kannst doch nicht sterben. Küsst ihn, umarmst ihn: Nicht doch, nicht doch! Er ist schon tot, die Augen starren an die Decke, und ich flüstere noch immer auf ihn ein ... Beruhige ihn ... Die Namen sind weg, die weiß ich nicht mehr, aber die Gesichter sind alle noch da ...«
    »Verwundete werden vom Schlachtfeld getragen ... Sie weinen ... Nicht vor Schmerzen, sondern vor Hilflosigkeit. Es ist ihr erster Tag, sie sind gerade an die Front gekommen, manche haben noch keinen einzigen Schuss abgegeben. Sie hatten noch kein Gewehr bekommen, man muss dazu sagen, dass die Waffen in den ersten Jahren nicht für alle reichten. Wenn ein Kamerad hinfiel, nahm ein anderer sein Gewehr an sich. Seine Handgranaten. Sie gingen mit bloßen Händen in den Kampf ... Mit Federmessern ...
    Und stießen gleich auf Panzer ...«
    »Wenn ein Arm oder ein Bein abgeschnitten wird, dann blutet es nicht. Nur reines weißes Fleisch, das Blut kommt erst später. Ich kann noch heute kein Huhn zerlegen, dieses weiße, reine Fleisch. Dann bekomme ich einen ganz salzigen Geschmack im Mund ...«
    »Soldatinnen wurden von den Deutschen nicht gefangen genommen. Sie wurden sofort erschossen. Vorher führte man sie der angetretenen Truppe vor: Seht sie euch an, das sind keine Frauen, das sind Monster. Russische Fanatikerinnen! Jede von uns hob sich immer eine Patrone für sich selbst auf – lieber sterben als in Gefangenschaft.
    Eine Krankenschwester von uns geriet in Gefangenschaft. Zwei Tage später, als wir das Dorf zurückerobert hatten, fanden wir sie: Die Augen ausgestochen, die Brust abgeschnitten ... Aufgespießt auf einen Pfahl ... Es war Frost, sie war ganz weiß und ihr Haar total grau. Sie war neunzehn Jahre alt. Und sehr schön ...«
    »Wir waren auf dem Rückzug und wurden bombardiert. Im ersten Jahr waren wir ständig auf dem Rückzug ... Die faschistischen Flugzeuge flogen ganz tief, machten Jagd auf jeden Einzelnen. Wir rennen weg. Verstecken uns im Wald. Er kommt auf mich zugeflogen ... Ich kann ihn sehen. Sein Gesicht ... Und er sieht, dass wir Mädchen sind ... Ein Sanitätstransport ... Wir verstecken uns hinter den Kiefern ... Er zielt auf mich und lächelt noch. Ein freches, schreckliches Lächeln ... Und ein schönes Gesicht ... Ich in den Mais – er hinterher, ich zum Wald – er zwingt mich zu Boden. Ich renne in den Wald, in einen Laubhaufen. Ich habe Nasenbluten vor Angst, ich weiß nicht, ob ich noch lebe oder nicht,

Weitere Kostenlose Bücher