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Der Krieger und der Prinz

Der Krieger und der Prinz

Titel: Der Krieger und der Prinz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merciel Liane
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schwachen Flamme, und mühte sich, die Worte zu finden, die in einem See aus Lügen die Wahrheit auszudrücken vermochten.
    Es fühlte sich so unbeholfen an wie der Versuch, Elfenbein mit einer Axt zu schnitzen, aber am Ende hatte er etwas, das ihm beinahe genügte. Das Schreiben schmerzte; das hatte er nicht erwartet, aber es fühlte sich richtig an. Zu guter Letzt schmerzte ihn die Brust ebenso, wie ihm die Augen wehtaten, und seine Finger waren wie erfroren.
    Mühsam faltete Albric den Brief zusammen und versiegelte ihn mit dem Wachs einer Kerze, die er an der Laterne entzündet hatte. Er schob das Schreiben wieder in das Gebetbuch und legte sich zur Ruhe nieder.
    Am Morgen würde er den Brief abschicken. Schon bald danach erwartete er zu sterben.

16
    »Sei auf der Hut vor den Vis Sestani«, hatte Brys gesagt, bevor sie Tarnebrück verließen.
    »Warum?«, hatte Odosse gefragt. Sie kannte die Geschichten vom Sternenvolk: dass sie Diebe waren und auch Kinder stahlen, dass sie kein Eisen berühren konnten und daher keine Waffen trugen, sondern sich stattdessen einer grausamen Magie bedienten, damit sie sicher über die Straßen ziehen konnten. Und sie wanderten endlos umher, von den Sonnengefallenen Meeren zum Stillen Wasser – wegen eines uralten Fluches, mit dem ihr Stamm belegt worden war. Wie jedes Kind in ihrem Dorf hatte sie all diese Geschichten gehört, aber sie hatte nie einen lebenden Vis Sestan zu Gesicht bekommen. Für sie waren es Gestalten aus Märchen, genauso wie der Ritter Lumpengesicht, der streunenden Kindern die Haut abzog und damit seine eigene verrottende Haut flickte.
    »Weil in den Geschichten ein gerüttelt Maß Wahrheit steckt. Sie stehlen Dinge, wenn sie können. Auch Kinder, wenn sie glauben, die Kleinen gehörten von Rechts wegen ihnen.«
    »Aubry?«
    Brys hatte etwas Unverständliches gebrummt, als sie ihm diese Frage gestellt hatte. Sie dachte, er versuche, nicht zu lachen. »Deinem Welpen sollte nichts zustoßen, es sei denn, du hättest mit einem Sestani-Sänger geschlafen und ihn dadurch empfangen. Sie stehlen nur die Babys, die sie gezeugt haben … und manchmal solche mit rotem Haar. Aber halte trotzdem ein Auge auf ihn, nur um sicher zu sein.«
    »Warum gehen wir mit ihnen, wenn sie Diebe sind?«
    »Wir brauchen eine große Anzahl von Leuten, unter denen wir uns verstecken können, und an den Geschichten über die Magie der Vis Sestani ist ebenfalls etwas dran. Sie haben einige Tricks auf Lager. Die könnten helfen, die Dornen fernzuhalten. Mit ihnen sind wir sicherer als ohne sie. Sie sind nicht so dumm, dass sie versuchen würden, mich auszurauben« – er berührte vielsagend den Griff seines Schwertes –, »und du hast nichts, was sie interessiert.«
    Und so kehrten sie in Gesellschaft der Vis Sestani auf die Straße der Flusskönige zurück.
    Odosse hatte nicht gewusst, was sie von dem Sternenvolk zu erwarten hätte. In den Geschichten waren sie Geschöpfe aus Liedern und Schatten, kaum menschlich, mit Haaren aus tanzenden Flammen und Gesichtern, die bemalt waren wie Masken aus Festelle.
    Sie waren durchaus menschlich, wie sich herausstellte, aber es war unschwer zu erkennen, wo die Geschichten ihren Ursprung genommen hatten. Die meisten Vis Sestani waren rothaarig, und die Rotschattierungen reichten von Bernsteingold über Kupfer bis zu tiefem Mahagoni, und alle bewegten sich mit der leichtfüßigen Behändigkeit von Rehen. Untereinander sprachen sie eine seltsame, fließende Sprache, die sich für Odosses Ohren so fremdartig anhörte wie das Plätschern eines Baches über Steine. Auf den Gesichtern trugen sie eintätowierte, farbenprächtige Sterne, gelegentlich ein einziges kleines Mal in einem Augenwinkel oder über einem Wangenknochen, manchmal ein volles Sternbild in Gold- und Grüntönen quer über das ganze Gesicht.
    Auch die Geschichten über die fehlenden Waffen stellten sich als wahr heraus. Odosse sah kein einziges Schwert bei ihnen. Sie benutzten Eisen für ihre Töpfe und die Geschirre ihrer Pferde; also war es kein Fluch, der sie daran hinderte, Stahl zu tragen, aber die Vis Sestani hatten keine Klingen, die größer waren als ein Messer.
    Große, rote Ochsen mit zottigem Fell zogen ihre Wagen. Die langen Hörner mit den schwarzen Spitzen hatten die Form einer Leier. Den kleinen, flinken Pferden hatten die Vis Sestani süß duftende, getrocknete Blumen in die Mähnen geflochten und ihnen Geschirre mit silbernen Sternen über die Brust gelegt. Als sie

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