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Der Krieger und der Prinz

Der Krieger und der Prinz

Titel: Der Krieger und der Prinz Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Merciel Liane
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Goldrand, das am Rücken mit Gold unterlegt war. In der Mitte des Emblems bäumte sich ein stolzes, schwarzes Einhorn auf, und auf der Rückseite waren in einer fließenden Schrift Worte geschrieben. Einen ebensolchen Lederriemen hatte sie an Brys’ Hals gesehen, als sie durch das Tor gegangen waren.
    Dies war das Medaillon eines Ritters, das wusste Odosse, obwohl das Zeichen ihr fremd war. Ritter erhielten diese Medaillons von ihren Lords, wenn sie ihre Treueeide ablegten und gesalbt wurden; es waren noble Geschenke, weitergegeben vom Vater an den Sohn oder durch große Tapferkeit erstritten. Alle Geschichten erwähnten die Embleme, die ihre Helden trugen, und viele Berichte beschrieben, wie sehr es einen Ritter entehrte, wenn er sein Medaillon verlor.
    Brys schien um sein Medaillon nicht sonderlich besorgt zu sein, andererseits hielt er sich anscheinend auch nicht für einen großen Ritter. Odosse legte es sorgfältig zurück und fragte sich, wessen Zeichen das sich aufbäumende Einhorn sein mochte. Dann berührten ihre Finger etwas anderes daneben.
    Sie zog einen silbernen Anhänger heraus. Er war mit Filigranarbeit geschmückt, die das gleiche Muster von Reben und Blumen zeigte wie der Beutel, und mit einem winzigen Riegel gesichert. Sie lockerte ihn mit dem Fingernagel, und als sie den Anhänger öffnete, kam darin ein Miniaturportrait zum Vorschein.
    Es zeigte eine junge Frau. Das Kerzenlicht verfälschte die Farben des Bildnisses, tauchte sie in einen kräftigen, goldenen Schimmer, sodass Odosse die wahre Schattierung des Haars oder der Haut nicht erkennen konnte. Die Frau auf dem Bild trug Juwelen, und das Kleid um ihre Schultern war mit einer Spitze gesäumt, die so fein und schaumig war wie Sahne. Sie war wunderschön, wer immer sie war, aber wenn der Pinsel des Malers nicht log, schien von ihren Augen eine stille Traurigkeit auszugehen.
    Odosse glaubte nicht, dass Brys ein Portrait behalten würde, das etwas verfälschte. Sie ließ den Anhänger zuschnappen, legte ihn in den Beutel zurück, wickelte dann das zerlumpte Hemd darum und stopfte alles wieder in die Satteltasche.
    Das Bildnis hinterließ in ihr ein unbestimmtes Gefühl der Melancholie. Also war er wirklich ein Ritter. Vermutlich war die Frau auf dem Gemälde seine edle Liebste; schön genug dafür war sie gewiss. So wie Odosse es nicht war – aber das war ein lächerlicher Gedanke. Sie hatte ohnehin niemals etwas Derartiges erwartet. Nicht von Brys.
    Trotzdem schmerzte der Gedanke ein wenig, dass niemand jemals ihr Portrait in einem Anhänger bei sich tragen würde. Schöne Frauen weckten solche Hingabe. Hässliche nicht. Das war die simple Wahrheit der Welt.
    Sie küsste Aubry auf die Stirn und legte sich neben ihren Sohn aufs Bett, aber der Schlaf wollte nicht kommen. Die Kerzen brannten herunter und erloschen eine nach der anderen. Draußen ging der Mond auf und sandte gekräuseltes Licht durch das schlechte Glas. Der Wind rüttelte an den Dachtraufen, pfiff durch Ritzen in den Fenstern und brachte so einen Hauch von Winter in den Raum.
    Odosse lag rastlos unter Leinen und dicker Wolle und dachte an Aubrys Vater, den Jungen, von dem sie einst geglaubt hatte, sie würde ihn lieben. Den Jungen, von dem sie einst geglaubt hatte, er würde sie lieben.
    Coumyn, der zweite Sohn des Stellmachers. Im Sommer ihres sechzehnten Jahrs hatte er sie hinter der Werkstatt seines Vaters mit Blumen umworben und ihr Küsse gestohlen. Niemand hatte ihr jemals Blumen geschenkt oder den Wunsch geäußert, sie zu küssen.
    Sie dachte daran, wie liebenswert schüchtern er gewesen war, als sie zusammen auf den Heuboden gekrochen waren; seine Hände hatten gezittert, als er die Schnüre ihrer Bluse öffnete, und sein Atem hatte schwach nach Milch gerochen, als er über ihr stöhnte. Und wie grausam er anschließend gewesen war, als ihr Bauch anzuschwellen begann und das ganze Dorf darüber tratschte, wer wohl der Vater sein mochte. Wer konnte so verzweifelt und so tief gesunken sein, der hässlichen Tochter des Bäckers ein Baby zu machen?
    Odosse fragte sich, welches der wahre Junge war: Der, der ihr insgeheim süße Versprechungen zugeflüstert hatte, oder der, der sie in der Öffentlichkeit verhöhnt und seinen Freunden erzählt hatte, dass ihr Baby gewiss als halbes Schwein geboren werden würde, weil kein Mann sie haben wollte.
    Danach hatte sie ihn lange Zeit gehasst. Sie hatte den Vater niemals verraten, weder ihren Eltern noch dem Dorfsolaros oder sonst wem,

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