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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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diesen Stunden gerade erst zu verstehen begann: Ich wollte Ananda beschützen. Denn Ananda war im Palast . Ich spürte den Geist meiner Kindheit mit jeder Nacht deutlicher, stärker als je zuvor, seit ich nach England gekommen war, und er war im Begriff, auch zum Spielball des Empires zu werden. Es war, als sei einem von der eigenen Mutter nicht mehr als ein Schmuckstück geblieben, und auf einmal fand man diesen Kindheitsschatz auf einer Auktion wieder, wo er an den Meistbietenden versteigert werden sollte.
    Ananda war ich, und was wäre ich ohne sie mehr als eine amüsante Fußnote der britischen Kolonialgeschichte? Baileys kleines Experiment in freiem Willen?
    Ich sah nach Norden, wo sich der Rücken des Palasts erhob, einer schneebedeckten Bergkuppe gleich. Die Hagelkörner auf den Dächern South Kensingtons waren geschmolzen, aber auf den gläsernen Schuppen des Palasts waren kleine Seen zurückgeblieben, so dass er sich wie der Leib eines großen, schlummernden Titanen, eines vorsintflutlichen Eiswesens vor den dunklen Wipfeln des Hydeparks abhob.
    Anandas Stimme hatte wieder eine Richtung, und ihr Ruf wurde jede Nacht lauter. Sie wartete im Zentrum, wo alle Wege zusammenliefen, und ich wollte meinen Weg zu Ende gehen und mich mit ihr vereinigen. Endlich.
    Wachsam huschte ich weiter. Es tat gut, mich zu bewegen, denn nach über einer Stunde auf dem Dach war ich durchgefroren, und mein Atem stieg in kleinen Wölkchen auf. Ich war nicht allein; ein Kätzchen schnürte zwischen den rauchenden Schornsteinen umher. Ein ums andere Mal hielt es inne und blickte auf die Stadt hinaus wie ein Löwe, der die Savanne überblickt. Dann bemerkte es mich und sprang erschrocken in die Schatten.
    Schräg unter mir, in einem gemütlichen Salon, brannte Licht, und ich sah die Umrisse der Männer, auf die ich es abgesehen hatte. Bailey war da, zusammen mit drei anderen Mitgliedern der Loge. Sie hatten hohen Besuch: Joseph Paxton, der Konstrukteur des Palasts, dessen nettes Gesicht man dieser Tage häufig in der Zeitung sah. Früher war er ein einfacher Gärtner und Architekt gewesen, der Gewächshäuser für den Duke of Devonshire gebaut hatte. Niemand wusste so recht, wie er es geschafft hatte, den Zuschlag für das wichtigste Bauvorhaben des Jahrzehnts zu erhalten, doch nun war er ein gemachter Mann, bei allen beliebt und ein Günstling des Prinzgemahls.
    Dann war da noch ein Herr von würdiger Gestalt, den ich nicht kannte. Eine Weile konnte ich ihre Stimmen undeutlich durch ein halbgeöffnetes Fenster hören, wie sie lachten, den Weinbrand lobten und kleine Höflichkeiten austauschten. Dann schlossen sie das Fenster. Es war aber klar, dass die Stimmung nicht so heiter war, wie es den Anschein machte. Gastgeber wie Gäste wirkten gespannt, und zumindest bei letzteren konnte ich das eindeutig spüren. Einige Male sah ich Bailey eine seiner ausschweifenden Gesten machen, die ich so gut kannte; er versuchte, das Gespräch an sich zu ziehen oder auf ein bestimmtes Thema zu lenken. Doch immer wieder hob einer seiner älteren Brüder, ein hagerer Mann mit einer Adlernase, die Hand und gebot ihm zu schweigen, und Bailey ertrug eine Demütigung nach der anderen. Dieser Mann war mir unheimlich, und ich konnte seine Gefühle ebenso wenig lesen wie Baileys – selbst, als ich ihn direkt im Blick hatte.
    Später kam Bewegung in die Szene. Umständlich erhob und umkreiste man sich, ließ sich Hut und Mantel bringen und bewegte sich dann Richtung Ausgang. Ich veränderte meine Position, um einen besseren Blick auf den Hof zu haben. Eine Tür öffnete sich, und ich hörte Schritte auf dem Pflaster und Baileys Stimme in der Nachtluft.
    „Jederzeit, Mr. Paxton“, sagte er, „und lassen Sie sich von Dickens und seiner Kritik nicht verunsichern! Der Ritterschlag ist Ihnen so gut wie gewiss.“
    Genügsames Lachen. „Aber nicht doch, Mylord. Zwei Tage noch. Ich werde es verkraften.“
    „Zwei Tage, in der Tat“, sagte eine dritte Stimme, und als ihr Besitzer in mein Gesichtsfeld trat, erkannte ich ihn als den Hageren. „Zwei Tage, und Sie haben einen Palast erschaffen. Einen Palast aus Eisen und Kristall.“
    „Ich bin, fürchte ich, kein Freund der blumigen Umschreibungen, die die Presse für unsere Konstruktion gefunden hat. Ich habe nur mein Werk getan, so gut ich eben konnte – ein Gedanke, den Sie sicher zu schätzen wissen.“
    „In der Tat“, wiederholte der Hagere, und seine Stimme knirschte wie Eis. „Der Prinzgemahl kann

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