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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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konnte nicht sehen, ob die Särge offen oder geschlossen waren, doch ich spürte das bleierne Murmeln der Mumien, ihr Ascheflüstern, ihren Brandgeruch, wie sie sich in diesem Regen der Elemente badeten wie Greise, die sich die schalen Kleider vom Leib rissen und ihr faltiges Fleisch in Morast und in Blut suhlten, um ihm neues Leben zuzuführen. Das war es also! Der Palast war für die Heeren nicht Linse, nicht Werkzeug, sondern ein großer Kessel, eine Lebensmaschine, an der sie sich labten wie schmatzende Egel. Darauf hatten sie jahrzehntelang gewartet. Nur deshalb hatten sie mich geschickt, deshalb waren sie um die halbe Welt gereist.
    Eine Gestalt schritt ruhig von Sarg zu Sarg und führte verschiedene Handgriffe aus. Es war der hagere Schemen des Arztes, der mich in Sumatra geöffnet und wieder geschlossen und mich zu dem gemacht hatte, was ich nun war. Was war ich? Ein Ingenieur oder ein einfacher Heizer? Ein Dienstbote, nein, weniger noch, ein Wärter, der Futter herbeischleppte für das blutige Mahl der Zerstörung, wenn die Heeren über die Welt herfallen und sich an ihr gütlich tun würden!
    Das Licht verlor seinen Glanz, und der Palast schien mir bejammernswert, wie eine entweihte Kirche, eine ausgeschlachtete Lok. Ich konnte nicht sagen, dass mich das glücklich machte. Mein Gehirn fühlte sich an, als seien glühende Messingdrähte hindurchgespannt. Die Worte der Prophezeiung kamen mir in den Sinn.
    Ich bin der Ingenieur!
    Ich bringe den Untergang!
    Ich hob die Hände und sandte das Feuer meines Geistes aus. Ich suchte nach den anderen beiden, die irgendwo hier inmitten dieser wirbelnden Galaxie bei mir sein mussten. Ich fand die Kleine, zusammengekauert wie ein Kind, dann den Captain, dessen weiße Knöchel das rotierende Kristallrund umklammerten und der bewegungslos und mit schreckgeweiteten Augen ins Nichts blickte, als stünde er am Bug eines Schiffs und stürze die Enden der Welt hinab, und ein Gedanke formte sich in der gleißenden Leere wie ein Echo des ersten Gedankens, der am Anfang gewesen war. Ich weiß nicht, wer von uns ihn zuerst dachte und den anderen zurief; wer zuerst erkannte, was für eine grässliche Torheit wir begangen hatten und eingestehen musste, dass das Licht nicht gut war. Aber sie oder ich oder er dachten ihn, sprachen den Gedanken aus und gaben ihn weiter, und dann war es nicht mehr aufzuhalten, und ich lachte wie wahnsinnig, als ich meine Macht erkannte, diesen Gedanken zu denken, meinen Kopf endlich wieder für mich zu haben, und ich lachte und lachte, obwohl das Feuer meine Seele verbrannte und die Heeren in der Tiefe sich daran berauschten.
    „Nein!“, dachte ich.

    Aus meiner Perspektive sah es aus, als habe sich ein gewaltiger Schlund aufgetan, wo eben noch nur die Fenster des Palasts und dahinter die pechschwarze Nacht gewesen waren, und aus diesem Schlund ergoss sich das Licht auf uns. Der Niederländer schien nicht mehr neben, sondern eher über mir zu sein, aber das mochte Teil der ganzen Täuschung sein, denn jeder Begriff von Richtung oder von eben und jetzt schien nur noch ein willkürlich gewählter Gedanke. Das einzige, was vielleicht noch einen Sinn ergab, war das Hier und das Dort, das Nahe und das Ferne. Die Inderin hatte es am weitesten von uns weggerissen; sie war so fern, dass ich sie kaum noch sehen konnte. Ich weiß nicht, was es war, was mich im Hier festhielt, außer vielleicht meine Weigerung, meine Phantasie mit mir durchgehen zu lassen.
    Dabei konnte ich mich der Masse der auf mich einprasselnden Eindrücke kaum erwehren; mit jeder neuen Woge des Lichts, die uns traf, wurden es mehr. Wollte ich diese Eindrücke beschreiben, würde ich sagen, es waren Eindrücke der Ferne, ob Orte oder Zeiten, wusste ich nicht, aber ich entdeckte Landschaften, ja ganze Kontinente in diesem Licht, die vielleicht die Silhouette Australiens waren, wie die ersten Seefahrer sie durch ihr Fernrohr gesehen hatten, oder die öden Ebenen des Mars oder ein Ort, der noch gar nicht existierte. Der Punkt ist, sie waren nicht hier.
    Verblüfft stellte ich fest, dass das aber nicht so bleiben musste.
    Wenn ich wollte, dann waren all diese Orte, genau hier, genau jetzt, und einer von ihnen drängte mehr als alle anderen nach meinem Ruf. Es war, wie ein Wildpferd zu reiten, das sich seinen Weg durch einen Wald voller Möglichkeiten sucht. Überall waren Wege, doch das Pferd hatte seinen eigenen Willen, und wenn ich, der Reiter, es nicht zügelte, würde es einen eigenen Weg

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