Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Arme aus.
„Was nun, Captain? Erschießen Sie mich?“
Ich sehe ihm in die Augen und denke einen Moment darüber nach.
„Nur zu“, sagt er. „Ich habe keine Angst, denn ich bin schon einmal gestorben.“
„Wir schaffen hier besser Ordnung“, murmele ich und wende den Blick von ihm ab.
Die elektrische Uhr unter dem Transept ist stehengeblieben. Bailey zückt seine Taschenuhr und verzieht das Gesicht. „Gute Idee. In weniger als zwölf Stunden steht die Königin vor der Tür und will ihre Ausstellung eröffnen.“
Wir scharren mit den Füßen im Staub. Nichts ist von der Sphäre und den Kristallen geblieben. Auch in meinem Armband, stelle ich fest, haben sich die letzten Reste verbraucht. Ich denke an den Fluch des Koh-i-Noor und die vielen Leben, die die Kristalle gekostet haben. Der Admiral greift in seine Tasche und wirft mir etwas zu. „Das werden Sie brauchen.“
Ich schaue, was ich da gefangen habe: eine weitere Kopie des Steins, auf den ersten Blick nicht von den anderen zu unterscheiden. Doch das Licht, das in ihm glänzt, ist nur das gewöhnliche Licht dieser Welt.
Wir legen den Stein zurück an seinen Platz im Sockel und verschließen den Mechanismus.
Eine nach der anderen kehren die Wachen zurück. Ungläubig starren sie auf die Verwüstung und auf uns. Doch Bailey drückt einem von ihnen einen Besen in die Hand, der Admiral schickt sie an die Arbeit, und sie gehorchen ohne Widerrede, wie gute Soldaten. Dann nicken wir einander zu und gehen zum Ausgang.
Ich spüre, wie mir Blut übers Gesicht läuft. Ich fühle die Wunden überall an meinem Körper, meine Rippen, die versengte Haut, die Schnitte, meine Nase, meinen Arm. Doch mir geht es so gut wie schon lange nicht mehr.
Ich frage mich, was ich nun tun werde.
Meine Frau zieht an meiner Hand.
Ich drehe mich noch einmal zu Bailey um.
„Ihr Auge“, sage ich, als ich sehe, dass der Kristall in seinem Gesicht verschwunden ist. Er sieht mich aus zwei blauen Augen an und zwinkert.
„Es ist ein Geben und Nehmen“, sagt er.
Wir treten nach draußen, in den Park.
Hydepark
But yesterday a naked sod
The dandies sneered from Rotten Row,
And cantered o’er it to and fro:
And see ’tis done!
As though ’twere by a wizard’s rod
A blazing arch of lucid glass
Leaps like a fountain from the grass
To meet the sun!
– William Makepeace Thackeray, May-Day Ode
A m Vormittag des 1. Mai 1851 hat sich ganz London im Hydepark versammelt. Viele harren seit dem frühen Morgen aus. Die Stadt ist mit Fahnen geschmückt. Ein leichter Regen setzt ein, aber niemand will sich davon vertreiben lassen. Fast eine halbe Million Menschen drängt sich im Park, und weitere Dreißigtausend, mehr als je zuvor in einem einzigen Gebäude, haben sich im Palast selbst eingefunden und warten auf ihren teuer erkauften Plätzen auf das Eintreffen der königlichen Familie.
Zur Mittagszeit fahren neun prunkvolle Kutschen durch den Park und halten punkt zwölf vor der Nordseite des Palasts. Der Himmel reißt auf, und Sonnenlicht schimmert auf den nassen Scheiben. Die Königin entsteigt ihrer Kutsche, gefolgt von ihrem Gemahl, ihrer ältesten Tochter Vicky mit Rosen im Haar und dem kleinen Prince of Wales in schottischer Tracht.
Victoria ist eine kleine Frau mit einem rundlichen Gesicht, deren Augen aufmerksam jedes Detail registrieren. Sie trägt ein Kleid aus rosa Moiré und ein diamanten- und federbesetztes Diadem. Dennoch wirkt sie verloren in der jubelnden Menge und unscheinbar neben ihrem stolzen Gemahl in der Uniform eines Generalfeldmarschalls, dem sie gerade bis an die Brust reicht. Sofort wird sie von ihrem Hofstaat und ihrer Leibwache umringt. Ihr alter Freund, der Duke of Wellington, ist da, der an diesem Tag seinen zweiundachtzigsten Geburtstag feiert, und natürlich Joseph Paxton, der Architekt, und Fürsten und Bischöfe und Botschafter und Menschen, ach, so viele Menschen, die die Königin nicht kennt und die doch nicht von ihrer Seite weichen, so wie der schweigsame alte Admiral mit seinem Gehstock oder dieser schnauzbärtige Mann in seinem furchtbaren weißen Aufzug, wie war noch sein Name – hatte sie nicht ausdrücklich Hofkleidung oder Abendgarderobe gewünscht?
Zu Fanfarenklang betritt die Prozession den Palast, während auf dem Transept der Royal Standard gehisst wird und die Menge ergriffen die Hüte abnimmt: Die Königin hat Einzug gehalten! Eine Militärkapelle vor dem Palast stimmt „Rule, Britannia!“ an, während im Palast zwei
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