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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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Mädchen, höchstens zehn Jahre alt. Sie hatte dunkles Haar und große mandelförmige Augen in einem zerbrechlich wirkenden Gesicht. Ich sah in sie und wusste, dass sie keinen Namen, keine Familie, keine Hoffnung und keine Angst kannte. Ich sah das alles, denn ich kannte sie: Sie war ich.
    Sie lächelte, nahm mich bei der Hand und führte mich die Stufen empor. Bis zu diesem Augenblick hätte ich nicht zu sagen vermocht, ob ich überhaupt einen Körper besaß, doch bei ihrer Berührung fuhr mir ein Stich ins Herz. Auf seltsame Art war ihre Nähe tröstlich, wie etwas Liebgewonnenes, das man verloren, eine Melodie, die man vergessen hatte. Ohne zu zögern folgte ich ihr, vorbei an den Schatten der Pandas und durch sie hindurch, als wären sie nur Traumgespinste. Nur manchmal wandte einer von ihnen den Kopf und blickte uns nach, wie man einem Vogel nachblickt, den man im nächsten Moment schon wieder vergessen hat. Dann war da der alte Sebait mit seinem grimmigen Blick und seinem Bambusstock; doch auch er ließ uns passieren.
    Sie führte mich an den Ort, den ich nie hatte betreten können. Den nur Bailey gesehen hatte.
    Der Tempel wuchs um uns wie eine Stadt aus Meerschaum, Elfenbein und Licht. Die Pilger trieben wie die Schatten ferner Wolken über den Platz, und einen Augenblick lang drehten wir uns um uns selbst, ließen uns treiben von ihrem Tanz. Ich spürte die Strömung, der wir folgten, den verheißungsvollen Ruf, den ich Zeit meines Lebens wahrgenommen hatte, wenn auch immer schwächer, je älter ich wurde. Ich lauschte der Stimme, forschte nach ihrem Puls, ließ mein Herz in ihrem Takt schlagen, ließ sie mein Wesen erfüllen. Das kleine Mädchen, das ich selbst war, lachte und zog mich durch ein hohes Portal, hinter dem eine weite Halle lag, die schimmerte wie polierter Marmor. Als wir die Schwelle überschritten, verschwand sie, und nur ihr Lachen hing noch in den Hallen und rannte hierhin und dorthin. Das Portal hinter mir schwang zu. Es wurde dunkel.
    „Komm näher“, sagte die Stimme, und ich gehorchte. Es wurde kühler, je tiefer ich in die Finsternis drang, und ein schwerer Geruch nach altem Weihrauch lag in der Luft. Ein endloses Muster gleichseitiger Dreiecke verzweigte sich über den Boden des Tempels, und an den Eckpunkten jedes Dreiecks flackerten Lichtchen wie Kirschblüten in einer Brise.
    „Näher“, sagte die Stimme. „Hab keine Angst.“
    Ein weißer Vorhang hing in meinem Weg. Ich zog ihn beiseite und betrat ein Labyrinth senkrecht gespannter Stoffbahnen, die den Mustern des Bodens folgten. Jedes der Tücher bildete die Wand eines regelmäßigen, sechseckigen Segments, und die flackernden Lichter warfen meinen Schatten auf die straff gespannten Segel, bis ein Heer dunkler Geister mir bei jedem Schritt zu folgen schien. Ich zog ein weiteres Tuch beiseite, dann noch eines, bis ich plötzlich einen Schatten vor mir sah, der anders war als die anderen. Der Weihrauchgeruch war jetzt stärker.
    Der Schatten stand ganz still, und bewegte sich doch, ein Spiegelbild in unruhigem Wasser. Ich ging einen Schritt nach vorne.
    „Wer bist du?“, fragte ich.
    Der Schatten neigte langsam den Kopf.
    „Ich bin die, die du gesucht hast“, sagte die Stimme. „Dein Leben lang.“
    „Sati“, sagte ich. „Dakshayani.“
    „Ich war immer schon hier“, sagte die Stimme. „Ich habe auf dich gewartet.“
    „Ananda“, wisperte ich und streckte die Hand aus.
    „Hebe den Vorhang“, sagte die Stimme. „Zerreiße den Schleier.“
    Der Stoff in meiner Hand zerfiel wie Spinnweben, und vor mir, in dem sechseckigen Gemach, stand eine Frau mit gesenktem Haupt, die mir den Rücken zuwandte. Sie stand reglos wie eine Statue, doch ihre Gewänder wogten mit der hypnotischen Anmut eines Schlangenleibs.
    Ich schauderte. Nein, ich zitterte vor Kälte. Vorsichtig streckte ich die Hand nach ihrer Schulter aus. Da wandte sie sich mir zu, ganz langsam, und ich wusste, wen ich sehen würde, noch ehe meine Finger ihre Haut berührten, ihr Blick den meinen traf. Die Haut wie junge Erde, die hohen Wangen, die dunklen Augen ...
    „Erkenne dich selbst“, sagte die Stimme, und ich erstarrte.
    In diesem Moment flogen die Türen des Tempels weit auf, und ich taumelte, als ein Windstoß durch die Hallen fuhr, den Weihrauch vertrieb, und alle Lichter erloschen.
    Gemächliche Schritte hallten über den Marmor, und von fern drang eine Stimme an mein Ohr, die mich im Innersten wärmte, kräftig und laut wie der Bariton eines

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