Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
einen unsichtbaren Arm mit einem unsichtbaren Rücken.
Der Ausschnitt wandert wie die Lupe eines Entomologen, und man sieht für Sekunden einen Kopf, der keck über den Gehsteig irrlichtert, ein gehetzter Kugelblitz im Schatten der fünfstöckigen Häuser. In den Menschen, die Zeuge der Erscheinung werden, paart sich Neugierde mit der dunklen Angst, dem Zurückschrecken vor einem verstörenden, nie gesehenen Anblick.
Die Szene gefriert. Der Arm schwingt herum und erstarrt. Das Blitzen von Metall, ein Gladiatorengruß, und einen winzigen Moment spüre ich ihn, Frans, errate seine Absicht, ehe er sie ausführt, und lasse mich zu Boden fallen. Ein kurzes, sanftes Geräusch wie das Sausen eines Blasrohrs schwirrt durch die Luft und gräbt sich in die Schulter eines Mannes, der aufschreit und in das berstende Fenster einer Schneiderei taumelt. Eine Sekunde hüllen Glasscherben ihn wie die Samen einer Pusteblume ein, dann stürzt er hin, und ich spüre Frans’ Enttäuschung, nur einen Gedanken lang, eher er weitereilt.
Ich springe wieder auf und verfolge ihn. Aus der Luft brechen dünne Beine, die behände den eleganten Laternenmasten ausweichen und ein flimmerndes Stakkato wie die Speichen eines Rades schlagen. Sein Kopf wendet sich hierhin, dann dorthin. Nun schlägt er einen Haken und schießt über die Straße, wo er noch im Sprung verschwindet, um auf der anderen Seite wieder aufzutauchen. Laute Wut der ausweichenden Kutscher, Grauen im Angesicht des nackten, unvollständigen Mannes und seiner Verfolgerin, die an der Umzäunung des Green Park entlang preschen.
Je mehr ich ihn sehen kann, desto mehr fühle ich ihn. Oh, sein Zorn über sein Auffliegen und seine Freude an der Flucht! Eine seltsame Melange, wie ich sie von Katzen kenne: zu verliebt in ihr Spiel, um es zu gewinnen, zu geschickt, um es zu verlieren. Das flackernde Entzücken, eine würdige, vielleicht sogar ebenbürtige Gegnerin gefunden zu haben, dazu die Unsicherheit, wie lange sie ihm schon auf den Fersen sein mag, was sie weiß und was sie ahnt.
Hyde Park Corner, flankiert von Apsley House und St. George’s Hospital. Der prunkvolle Triumphbogen, darauf die unmöglich große Reiterstatue des Duke of Wellington, der sein Schwert wie einen Regenschirm emporreckt. Eine Windmühle aus Gliedmaßen: Nackte Arme und Beine fliegen in chaotischem Wechsel auf den Bogen zu, dem Versprechen des Hydeparks und der Gewissheit unseres gemeinsamen Ziels entgegen.
Voraus liegen der Serpentine Lake und die Kavalleriekasernen. Ein bunt geschmücktes Kriegsschiff schaukelt auf dem See. Wie es dorthin gelangt? Ein neues Gefühl dämmert in mir empor, ein übermächtiger Sog, als trieben wir einen breiten Strom hinab, immer schneller, einem rauschenden Katarakt entgegen. Wie Sindbads Juwelen den Seefahrer ins Tal der Schlangen hinabzogen, scheinen auch unsere Schätze den Weg ihrer Bestimmung noch vor ihren Trägern zu kennen.
Die Männer auf der Rotten Row tragen Gehröcke, die Frauen hochgeschlossene Kleider, und alle Farben sind dunkel und glänzen im Regen wie Rubine und Saphire in einem Flussbett. Die meisten Reiter und Reiterinnen haben Schutz unter den Bäumen gesucht, nur einige betont teilnahmslose Herrschaften stolzieren auf ihren schnaubenden Vollblütern vorüber, die Damen im Seitsitz, und recken ihre Zylinder empor, Damen wie Herren. Wer einen Schirm mit sich führt, hat ihn aufgespannt, und die Parade bunter Parasolhüte verwandelt den Hydepark in einen magischen Wald.
Als die Frau in dem zerrissenen Kleid diesen Wald betritt, scheint es, als wendeten sich alle Schirme ihr zu und gäben eine Gasse frei, als hielte Grendel Einzug in Hrothgars Halle. Doch wer im richtigen Moment den Blick senkt, wird eines noch unheimlicheren Schauspiels gewahr: konzentrische Kreise, die in den Pfützen erblühen, wo die Füße des Unsichtbaren durch den schlammigen Kutschenweg stapfen.
Eine weitere Sekunde lang hält er inne und wendet sich seiner Verfolgerin zu, und die flackernde Fata Morgana des Splitternackten lässt mehrere Damen in Ohnmacht fallen. Ich springe hinter einen Baum. Pferde scheuen, eine Kutsche rast von der Straße, und ein Tumult bricht aus, doch das Phantasma ist schon nicht mehr zu sehen.
Ein Palisadenzaun versperrt den Weg, umzingelt von Baracken und provisorischen Lagern; doch hinter der Palisade wächst wie ein Schloss aus blauem Eis die Ostseite des Palasts empor: eine hundert Fuß hohe Basilika aus Eisen und Glas, in deren unzähligen
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