Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
blinde Kuh in einem engen Raum zu spielen: Ich konnte weder etwas sehen noch spüren und war doch sicher, dass ich nicht alleine war. Ich ahnte es, der Shila ließ mich zum zweiten Mal an diesem Tag im Stich. Etwas im Raum verwirrte meine Sinne.
Graues Licht fiel durch ein Fensterchen, von dem Regentropfen herabflossen. Darunter war ein Klosett mit einem Spülkasten, daneben eine Badewanne mit einem hohen Duschaufsatz, der durch eine Handpumpe gefüllt werden konnte.
Langsam drehte ich mich um. Im toten Winkel hinter der Tür, auf einem Schränkchen, stand zwischen Parfums und Seife das Artefakt.
Ich streckte die Hand danach aus, als ich das Wasser auf dem Boden bemerkte.
Eine kleine Pfütze auf dem Boden und eine größere in der Wanne. Das Bad war noch vor wenigen Augenblicken benutzt worden.
Ich beobachtete fasziniert, wie sich ein Tropfen am Rand des Duschaufsatzes sammelte.
Langsam löste er sich ab und fiel.
Er erreichte nie den Boden.
Ehe ich reagieren konnte, gab es eine Bewegung in der leeren Luft, etwas riss das Artefakt von seinem Schränkchen, und es verschwand. Im selben Augenblick wurde ich hart beiseitegestoßen, Wasser spritzte mir ins Gesicht, und ich taumelte gegen den Türrahmen. Bailey stieß einen entrüsteten Ruf aus, und auch Betty begann wieder zu schreien. Glas zerbrach.
Ich stürzte wieder ins Schlafzimmer. Bailey wies auf das zerbrochene Fenster, durch das der Regen auf den Boden prasselte. Ein kleiner Blutfleck löste sich im Regenwasser auf.
„Er ist unsichtbar!“
Ich fluchte undamenhaft und riss mir Rock und Krinoline vom Leib, denn mit ihnen würde ich es kaum mit einem unsichtbaren Fliehenden aufnehmen können. Darunter trug ich die dunklen Beinlinge, die mir in einer vergleichbaren Situation bei Nacht zwar gute Dienste leisten, mir am helllichten Tag aber eine Woche im Gefängnis oder, schlimmer noch, in Bedlam einhandeln würden, wenn ich mich damit erwischen ließ.
Betty schrie. Bailey reckte ermutigend seinen Daumen empor.
Ich schwang mich aus dem Fenster und sprang.
Ich landete auf dem Verdeck unseres Landauers, federte und rollte mich auf dem Boden ab.
„Miss Delacroix!“, rief Bailey aus dem Fenster und hob die Hand. „Halten Sie ein Auge auf ihn!“
Er warf mir etwas zu.
Ich fing es und hatte ihm nächsten Moment sein Kristallauge in Händen. Einen kurzen Moment nur erschrak ich, dann setzte ich es in die dafür vorgesehene Fassung in meinem Geschmeide ein. Sein Freund Michael Faraday hatte diese Konstruktion entworfen. Normalerweise hätten der Shila und der Kristall einander behindert, aber dank Faradays Konstruktion harmonierten sie. Ich hatte Baileys Auge schon häufiger auf diese Weise getragen. Es war meist eine verstörende Erfahrung gewesen, aber gleichzeitig war es beruhigend zu wissen, dass sein Blick auf mir ruhte. Für mich fühlte es sich an, als verbänden sich zwei lange getrennte Liebhaber und teilten einander die Erfahrungen mit, die sie inzwischen gesammelt hatten. Bailey und ich wurden eins.
Ich fühlte, was er sah und er sah, was ich fühlte.
Er sah: das Kaleidoskop Piccadillys, hingesprenkelt darin die braven Passanten, die mit Schirmen und Hüten dem tückischen Wolkenbruch trotzen. Doch die Gefahr droht nicht von oben: Wie gefällte Bäume stürzen sie, gestoßen von einem Spuk ohne Gestalt, der den breiten Gehweg heimsucht. Velozipede kollabieren wie Kartenhäuser, staunende Kinder strecken die Hand nach dem Schalk aus und werden von ihren entsetzten Eltern zurückgerissen.
Ich fühlte: das grelle Erschrecken der Gestoßenen, gleißender Schmerz wie rotglühendes Eisen, als ein Mann gegen eine Laterne geschleudert wird, das dunkle Erstaunen, dann die Bestürzung, dass da etwas ist, was nicht sein darf.
Wasser, das sich auf der Straße sammelt und die zitternden Reflektionen der Menschen in den Pfützen und den Scheiben der Läden. Kalter Regen auf Glas, Wasser, das von einem unsichtbaren, blutenden Körper ohne Spiegelbild gleitet. Das Blut wird sichtbar, als es zu Boden tropft, und zerrinnt in den Pfützen wie Farbe im Terpentin eines Malers. Dort kreiselt es sich ein, Schneckenhäuser in den Gezeitentümpeln des Straßenrands, dann pflügt das eilige Rad einer Kalesche hindurch.
Eine Hand schält sich aus dem Nichts, der Splitter eines Mannes, ein wirbelndes Puzzlestück. Die Hand durchschlägt zur Faust geballt die Luft und verschwindet, damit im nächsten Moment eine nackte Schulter entsteht. Geschmeidige Muskeln verbinden
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