Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
konnte, etwa eine Miniatursäge, mit der ich den Lieblingsring meiner Ziehschwester recht hübsch verkratzen konnte (sie sagte, er trage einen echten Edelstein, und ich sah es als Pflicht, sie von ihrem Irrtum zu befreien; die Ärmste, wie hübsch sie war, wenn sie sich ärgerte!) Meine Mutter war sehr entsetzt darüber, allerdings weniger des Rings wegen als ihrer Angst, ich könne mich mit diesen Gerätschaften verletzen. Im tiefsten Inneren glaube ich noch heute, sie mochte mich sogar lieber.
Um eine lange Leidenschaft abzukürzen: Ich war begabt, und es war nur eine Frage der Zeit, bis man es erkannte, und so traf es sich, dass ich nicht nur in einer guten Amsterdamer Handwerksschule landete, sondern auch, dass man mich der VOC weiterempfahl und ich zum Ingenieur ausgebildet wurde.
Die Bezeichnung Ingenieur gefiel mir immer sehr gut, denn sie ist dem Wort Genie verbunden, ebenso dem Worte Genius – Schutzgeist; und nichts anderes waren die Heeren . Harte Arbeit machte mir nichts, und man erwartete nichts als Höchstleistungen von mir. Welnu , ich war schon immer fleißig gewesen. Dafür pflegte ich freien Umgang mit meinen Lehrern und Kollegen, mit denen ich nichtsdestotrotz im sportlichen Wettkampf stand, und konnte tun und lassen, was ich wollte (das traf auch auf meinen großzügig erlaubten Damenbesuch zu), solange ich mich nur der VOC verpflichtet gab.
Das war ich auch, mal mehr, mal weniger, doch im Allgemeinen stets und unverfälscht. Aufzuzählen, was mir meine neuen Freunde alles ermöglichten, wäre unmöglich; es mag genügen zu sagen, dass hier mein Umgang mit Technik und Mechanik erst dort begann, wo meine früheren Träume längst aufgehört hatten. Ach, ich lernte die schönsten Dinge: Kraftquellen, Geschosstypen, Zündmechanismen, Explosivstoffe, Destruktion und fortgeschrittene Betriebsstörung. Weiß man, wie etwas entsteht, weiß man auch, wie es zugrunde geht – ja, ja, auch in der Kultur tat ich mich um und legte mir das ein oder andere hübsche Sätzchen zu.
Kurzum, ich glänzte in allen Disziplinen, und hätte man in der alten Heimat noch offen VOC-Monogramme getragen, hätte ich mich dieser Sitte umgehend angeschlossen. Ich war den Heeren zu großem Dank verpflichtet, hatten sie mich doch zu einem der besten Ingenieure meiner Zeit ausgebildet, und da war es mir fast gleichgültig, dass sie die Überbleibsel eines ehemaligen Kolonialimperiums darstellten, die sich nach Rache an ihren englischen Erzfeinden verzehrten. Als Niederländer hatte ich diese halb schottischen, halb französischen Widerlinge sowieso noch nie ausstehen können, diese degenerierten Royalisten, mit deren Hilfe (ganz sicher war ich mir hier nicht) schon Napoleon aus der Batavischen Republik eine monarchistische Sickergrube gemacht hatte.
Meine neuen Herren sahen das ähnlich. Dass ich Teil ihrer, sagen wir, Nationalpädagogik werden sollte, indem ich mein sorgsam erworbenes Wissen praktisch zur Anwendung brachte, war mir nur recht, denn Däumchen drehen wollte ich nicht. Nach Abenteuern dürstete ich, und Abenteuer bekam ich. Am Ende meiner Ausbildung fragte man mich kurz entschlossen, ob ich den Heeren in einem Maße dienen wolle, das uns beiderseits glorreich erstrahlen lassen würde, und ich antwortete „ja“; dann fragte man mich, ob ich nicht gerne für einige Zeit in einem Trainingscamp am anderen Ende der Welt weilen wollte, und als ich, trotz der heißen Tränen meiner Frau Mama, nicht verneinte, ging es los über das Meer.
So kam ich dorthin, ohne eine Ahnung, wo das „Dort“ eigentlich lag und was ich da tun sollte. Ich war davon ausgegangen, ich solle noch mehr über Technologie und deren Zerstörung lernen, doch alles, womit man mich arbeiten ließ, waren diese schwarzen Steinchen. Genauer gesagt arbeiteten die Steine mit mir. So unglaublich das klingt, aber sie verliehen mir besondere Fähigkeiten. Das heißt, ich tat, was ich eigentlich immer tat, doch die Steine ließen es mich anders tun: manche schneller, manche besser, manche sorgfältiger. Damit ich die Steine besser tragen konnte, wurde ich operiert. Ein alter, dürrer Arzt, der mir immer ein wenig unheimlich erschien, gab mir eine Spritze und sah sich meinen Solarplexus an; als ich danach wieder aufwachte, konnte ich den jeweiligen Stein dort unter einer Hautfalte verstauen – wer hätte so etwas für möglich gehalten?
Ich trainierte mit den verschiedensten Steinen; wir beobachteten, was sie jeweils taten und stellten fest, welche zu
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