Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
in den Geschichten wörtlich gemeint ist und was nicht. Geistliche deuten Parabeln, während Ingenieure sie zeichnen. Aber Moment ...
„Wie das Oben wie das Unten ist, so ist der Weg des Lichts, denn der Weg nach oben ist derselbe wie der nach unten.“ Jetzt kam es mir wieder in den Sinn. „Wie der Weg nach unten derselbe wie der Weg nach oben ist, so treffen sich beide oben und führen nach unten. Der Bogen des Allvaters ist folglich oben und unten. Wir aber, die Materie, brechen das Licht wie ein Kristall die Weiße des Lichts in unreine Farben. Damit nun aber“, hier holte ich erneut Luft und war ziemlich sicher, dass ich mich um Kopf und Kragen redete, „damit nun der Weg nach oben wieder der Weg nach unten sein kann und die Welt ihrer Dinge geht, müssen wir aufhören, Materie zu sein, und aufgehen in Licht. Denn alles, was entsteht, muss zugrunde gehen; was nach oben führt, muss nach unten.“
„Was, Adept, ist der Sinn des Ganzen?“, unterbrach mich die Stimme, auch wenn ich nicht genau wusste, ob sie mich wirklich unterbrochen hatte oder ob ich ohnehin nichts mehr dazu zu sagen gehabt hatte. Ich nahm eher Letzteres an, denn einen Sinn sah ich in dem Ganzen nicht.
„Der Sinn ist ... der Allvater. Wir werden eins mit ihm in seinem Licht. Doch dazu muss die Materie zugrunde gehen. Halten wir nicht mehr den Odem gefangen, leuchten wir nicht mehr wie das Feuer in der Nacht. Lassen wir die Schatten der Materie gehen, kann das Licht seinen Bogen gehen, und wir sind wieder eins mit dem Vater.“
„Wozu willst du in der Macht der Kristalle unterwiesen sein, wenn das Licht nicht gebrochen sein soll, und den Bogen gehen?“
„Ich brauche den Kristall, um das Licht zu fangen. Da ich unreine Materie bin, brauche ich die unreine Materie des Kristalls. Da ich Mensch bin aus Lehm und dem Kot dieser Erde, kann ich das Licht nicht verstehen und muss, äh, aus dem Schatten der Materie treten.“
Ein allgemeines Murren erhob sich, und das war kein gutes Zeichen. Ich hörte verschiedene Wortfetzen, Ausdrücke des Erstaunens, dann der Empörung. Die eine Stimme setzte sich durch: „Du redest wirr.“
Wirr. Ich war insgeheim der Meinung gewesen, die ganze Zeit wirr geredet zu haben. Langsam breitete sich Stille aus. Schließlich verstummte das letzte Murren, was noch viel schlimmer war als das Murren selbst, denn nun erwartete man eine Antwort. Es wurde mir heiß um die Stirn, und der Schweiß rann mir unter der Augenbinde. Wie gerne hätte ich einen anderen Adepten neben mir gehabt, einen der bleichen Jungen mit Augengläsern, die nichts anderes im Leben taten als Antworten zu wissen, wie gerne hätte ich es gehabt, wenn er mir freundlich einige Worte zugeflüstert und ich ihn dann nach der Prüfung verprügelt hätte, um meinen Augenblick der Schwäche wiedergutzumachen. Es war aber niemand da außer mir, dem Dienstboten und den Heeren .
„Adept!“, ermahnte mich die Stimme, die die Fragen stellte. Ich holte Luft. Statt einer Antwort kam mir nur in den Sinn, weshalb ich eigentlich atmen musste, wenn ich den oberen und unteren Teil des Odems doch in mir hatte oder weshalb ein Odem überhaupt oben und unten haben geschweige denn eine Frau sein sollte. Ein Frau in mir, wie verdreht – und der Schweiß, wie er rann! Wäre es nur vorüber gewesen.
„Adept, deine letzte Ermahnung. Berichtige deine wirre Rede und gedenke der Worte der Prophezeiung.“ Einen Moment lang setzte mein Herzschlag aus. Der Prüfende hatte mir einen Hinweis gegeben. Die Worte der Prophezeiung. Wieso aber sollte er mir diesen Hinweis geben? Hatte man zugestimmt, dass er mir half? Wenn mir geholfen werden sollte, wieso dann der ganze Zirkus und mich nicht gleich zum „Sohn“ befördern? Das Ganze machte mich misstrauisch. Ich kannte die Prophezeiung über das Ende, dessen Teil ich sein sollte, wenn ich wirklich der Erwählte war. Jedoch sah ich keinen Zusammenhang zwischen diesen Worten und meiner angeblich wirren Rede. Vielleicht wollten sie einfach nachhelfen, da es nicht wirklich einen Erwählten gab. Wie sollte ich daraus klug werden? Durch Gedankenspielerei hat man noch selten ein Problem gelöst, und außerdem war ich eine Antwort schuldig, obgleich ich das Gefühl hatte, das Gegenteil sei der Fall.
„Nun“, sagte ich also, „verzeiht, wenn meine Rede wirr erscheint, aber ...“ Ach, was sollte der ganze Kram? „Ich bleibe dabei.“
Stille.
Eigentlich kein schlechtes Zeichen.
„Wohl hast du diesen Teil der Prüfung
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