Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
geschafft – du hast alle Mitbewerber übertroffen.“
„Die anderen“, erwiderte ich, denn mir fiel ein, dass ich von meinen Kameraden schon länger nichts mehr gehört und gesehen hatte. „Was ist mit denen?“ Ich legte das Papier weg und stand auf, um einen Blick vor die Tür zu werfen. Der Arzt folgte mir lautlos und antwortete mir erst, als ich ihn auffordernd ansah.
„Oh“, gab er unbekümmert zurück, „die sind durch die Prüfung gefallen. Eigentlich schade“, fügte er hinzu und starrte wieder in die Ferne, auf eine dicke Rauchschwade aus einem der Malaienöfen.
Vielleicht war es meine generelle Verwirrung, aber der Rauch erschien mir ganz besonders schwarz.
Sokrates Royle
Im Feldlager aller Nationen
D as Zelt stand auf einer alten Kuhweide, die direkt an den Garten grenzte. Der Garten gehörte zu Gore House, und das wiederum hatte zuletzt einer irischen Schriftstellerin gehört und seit deren Bankrott einem französischen Koch. Anfang des Jahrhunderts hatte William Wilberforce hier gewohnt – gut möglich, dass er von seinem Fenster auf seinen Garten und die Kuhweide geblickt und seine Pläne zur Bekämpfung der Sklaverei und der Missionierung der Kolonien geschmiedet hatte. Der Koch, der sich bisher vor allem mit Armenspeisungen hervorgetan hatte, wollte aus Gore House eine Art gigantisches Restaurant machen, nur nannte er es nicht Restaurant, sondern Symposium. Ich hatte nur einen flüchtigen Blick auf das Innere geworfen und fand es ungeheuer abstoßend, selbst für den Geschmack einer bankrotten Irin und eines französischen Kochs. Es gab ein groteskes Wandgemälde, auf dem sich eine willkürliche Auswahl berühmter Persönlichkeiten inmitten einer Schar von Fabelwesen tummelte; ich entdeckte Napoleon Bonaparte in Gesellschaft eines Drachen (es war nicht entscheidbar, ob er in der Art St. Georges mit ihm rang oder wie die Hure Babylon auf ihm zu reiten versuchte) und eine reichlich respektlose Darstellung des Duke of Wellington, der dem Kaiser der Franzosen wie ein Knappe zu assistieren schien. Es gab einen Salon voll griechischen Kitsches und einen weiteren voll chinesischen, und wenn ich etwas hasse, dann ist es chinesischer Kitsch, der nicht im Geringsten so aussieht wie chinesische Kunst, und schon für die habe ich nicht viel übrig.
Von dort ging es über eine halbherzig im venezianischen Stil gehaltene Doppeltreppe, unter der sich eine angeblich amerikanische Bar befand, in den ausgedehnten, von Laternen erleuchteten Garten, der wiederum mit Brunnen, Grotten und allen möglichen Statuen vollgestellt war. Auch einen Ballonlandeplatz gab es. An einem Ende hatte man eine deutsche Raubritterburg aufgestellt, und hinter der Burg lag die Kuhweide mit dem großen Zelt, die der Franzose sein „Feldlager aller Nationen“ nannte. Fahnen flatterten im Nachtwind.
Hier saß ich an einer dreihundert Fuß langen Rittertafel und verzehrte ein spätes Abendessen. Zum Glück saß ich nicht alleine dort; mehrere Männer, die ich schon während der ersten Nacht kennengelernt hatte, leisteten mir Gesellschaft. Dennoch wirkten wir verloren an der gewaltigen Tafel, wie die letzten Mannen eines gefallenen Reichs, und redeten nicht viel. Die meisten Männer waren Polizisten, auch wenn sie nicht alle Uniformen trugen. Auch einige private Sicherheitsleute waren darunter. Die Weltausstellung hatte eine gewisse Paranoia ausgelöst, nicht nur unter den Ausstellern. Irgendwie rechnete man täglich damit, dass etwas gestohlen würde oder ein Akt der Sabotage den minutiösen Zeitplan durcheinander brachte. Die Londoner witterten Heerscharen von Taschendieben und feindlichen Agenten unter den Ausländern, die ihre Stadt überschwemmten, und sie sorgten sich um ihre Königin: Schließlich war Königin Victoria gerade erst ein Jahr zuvor Opfer eines Angriffs geworden, auch wenn es sich bei diesem speziellen Angreifer ausgerechnet um einen geistig verwirrten Offizier im Ruhestand gehandelt hatte.
Nun, die Aussicht, an etwas so Wertvolles wie den Koh-i-Noor zu kommen, bevor er auf immer in Windsor Castle oder dem Tower verschwand, hatte sicher ihren Reiz, und so viele Ausländer wie zur Zeit sah man sonst wirklich nur im Krieg auf einem Haufen. Angesichts der politischen Verhältnisse auf dem Festland hielten manche es für töricht von der Königin, selbst an der Eröffnungszeremonie teilzunehmen, und einige der ausländischen Ehrengäste hatten sogar abgesagt.
Wie auch immer, ich hatte mir mein Urteil zum
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