Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
– er befolgt nur seine Instruktionen. Ich weiß, dass Sie sich unterfordert fühlen, doch es ist wichtig, dass Sie bei Sinnen sind.
Weiß, ich kann a. Sie zählen
W.-K.
Ich schüttelte den Kopf und faltete den Brief, während ich durch den Eingang des Zelts beobachtete, wie Greenwood in seinem hellen Kellneraufzug mit einem Tablett die dunkle Rasenfläche überquerte. Wie der Wicket-Keeper es prophezeit hatte, stellte er ein Glas vor mich.
„Eine vorzügliche Wahl“, sagte er und nahm die Speisekarte entgegen.
„Ich habe nicht gewählt“, sagte ich und steckte den Brief in das Glas. Augenblicklich begann er, sich aufzulösen. Er entwickelte einen ziemlich penetranten Gestank dabei. „Ich nehme an, ich werde dasselbe bekommen, was die armen Kerle da hinten essen?“
„So ist es.“
„Ich nehme weiterhin an, Sie werden mir keinen Drink servieren?“
„Ich kann Ihnen ein Ingwerbier bringen“, schluckte der Kellner. „Sir.“ Ich konnte sehen, wie er unter meinem Blick zu erröten begann.
„Schon gut“, lachte ich. Ganz offensichtlich war er ein „Fielder“, einer von vielen dienstbaren Geistern des Wicket-Keepers, die nicht talentiert waren und meist gar nicht wussten, für wen sie eigentlich arbeiteten. „Dann nur etwas zu essen – und Sie haben sicher auch eine Zeitung für mich.“ Er nickte emsig und verschwand.
Nach eigenem Ermessen. Nun, es ärgerte mich nicht besonders, dass mein Urlaub in immer weitere Ferne rückte. Eigentlich freute es mich sogar, dass der Wicket-Keeper mich nicht nur als Nightwatchman verpulverte, sondern mir zutraute, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Doch auch sein eigentümlicher Sinn für Humor konnte mich nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Anlass zu diesem Vertrauensbeweis echte Besorgnis war.
Immerhin: Ein halb unsichtbarer, vollkommen nackter Mann war in den Kristallpalast gestürmt, zielsicher auf den zentralen Bereich zu, in dem gerade der größte Diamant der Welt, ob echt oder nicht, aufbewahrt wurde. Leider war ich gerade auf der Toilette gewesen (es gab beeindruckend moderne Toiletten im Palast, und wir durften sie umsonst benutzen) und zu spät am Ort des Geschehens eingetroffen, um selbst einen Blick auf das zu werfen, was es da zu sehen (oder nicht zu sehen) gab. Als ich am Transept anlangte, war er schon wieder verschwunden, diesmal endgültig; dennoch hielten sich hartnäckig Gerüchte unter den Arbeitern, die ihn hier und dort wieder gesehen haben wollten.
Dann hatte man in der belgischen Abteilung einen bewusstlosen Nackten gefunden, doch es hatte sich nur um einen Mechaniker gehandelt, dem man offenbar seine Kleidung gestohlen hatte. Höchstwahrscheinlich war es unserem Phantom dann doch zu kühl geworden. Ich hatte mir trotz meiner Abgespanntheit gegen Ende meiner Schicht alle Mühe gegeben, beide Augen offen zu halten, soweit das in einer solchen Situation sinnvoll war, denn es gab nur zwei Erklärungen für das Phänomen: Entweder die Zeugen waren nicht ganz richtig im Kopf, oder unser ungebetener Gast verfügte über technische Hilfsmittel, die auf dem freien Markt nicht verfügbar waren. Leider war er mir nicht begegnet. Ich nahm an, er war talentiert.
Mittags war ich zum Club zurückgekehrt, hatte schriftlich meinen Bericht abgeliefert und mich schlafen gelegt. Als ich auf der Suche nach dem Symposium kurz am Palast vorbeigeschaut hatte, hatte sich die größte Aufregung zwar wieder gelegt gehabt, doch angeblich war es zu weiteren Diebstählen gekommen, diesmal vor allem Lebensmittel; es sah also ganz danach aus, als ginge der Nackte – der ehemals Nackte – immer noch um.
Durch die Botschaft des Wicket-Keepers sah ich mich in meinen Schlüssen bestätigt. Die Sitte kümmert sich darum. Das hieß so viel wie, dass er nicht mehr lange umgehen würde, denn kein Verhalten war in Augen der Sektion unsittlicher als der unsachgemäße Umgang mit Talenten und Kristallartefakten. Warum der Wicket-Keeper mich aus der Jagd nach dem Phantom heraushielt und weshalb es ihm solche Freude bereitete, irgendwelche kindischen Gerüchte über verfluchte Juwelen zu schüren, wusste ich nicht.
Was die „ihn begehrende Dame“ anbelangte, so war natürlich das hosentragende Mischlingsmädchen gemeint, das fast noch größeres Aufsehen verursacht hatte als der Nackte, was auch nicht verwunderlich war, denn wo er sich ja größte Mühe gegeben hatte, unsichtbar zu bleiben, hatte sie sich mächtig ins Zeug gelegt, so sichtbar wie möglich zu
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