Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Ausmaß der Bedrohung noch nicht gebildet.
    Sicherer war ich mir da schon mit dem Essen, dessen Aroma Gore House und seine Gärten durchwehte: Es versprach, ebenso widerlich wie die Inneneinrichtung zu sein. Ich fragte mich, weshalb der Wicket-Keeper mir angeraten hatte, hier zu essen. Sicher, das sogenannte Symposium war nur einen Steinwurf weit vom Palast, und der Club war zwei oder auch drei Meilen entfernt; aber an jeder Ecke bekam man frittierten Fisch oder Sandwiches, die mir völlig gereicht hätten. Selbst im Palast gab es Kleinigkeiten für das Wachpersonal, und auf die geistige Nähe William Wilberforces hätte ich auch ganz gut verzichten können.
    Die Antwort kam mit der Speisekarte. Eigentlich begann es damit, dass man darauf bestand, mir eine Karte zu bringen.
    „Ich brauche keine Speisekarte“, erklärte ich dem Kellner, der neben mir auftauchte und sie mir dennoch beharrlich reichte, während mehrere Männer weiter hinten vergeblich bemüht waren, seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. „Ich brauche etwas zu essen. Wenn’s geht aber nicht dieses Teufelszeug, das Sie den anderen gebracht haben. Wie wäre es mit einem Steak?“
    „Wir haben eine reichhaltige Auswahl für das Wachpersonal“, nickte der Kellner, die Speisekarte noch immer in der Hand.
    „Hören Sie schlecht?“, fragte ich. „Wo Sie schon dabei sind, bringen Sie mir etwas zu trinken von der Bar. Bringen Sie mir einen Sherry, oder meinetwegen einen Cobbler.“
    „Diese Speisekarte ist für Sie“, beharrte der Kellner, und stieß sie mir nachdrücklich an die Schulter, „und Sie sollten im Dienst nicht trinken“, mahnte er mich. „Sir“, fügte er hinzu.
    Ich stutzte und musterte ihn eingehender. Hatte ich den Burschen mit seinen Sommersprossen nicht schon einmal gesehen? Misstrauisch nahm ich die Karte entgegen. Als ich sie aufschlug, erkannte ich den Grund für die Sturheit des Kellners: Im Inneren der Karte befand sich ein an mich adressierter Brief. Im selben Augenblick fiel mir auch wieder ein, wo ich den Kellner schon einmal gesehen hatte: Er war das verweichlichte Bürschlein aus der Bruise Box. Der, den McKenzie und ich nicht gemocht hatten. Ich hatte ihn nicht erkannt, weil sein Gesicht weniger schlimm aussah als letztes Mal, als ich ihn gesehen hatte.
    Ich überlegte kurz, ob ich ihm befehlen sollte, mir einen Drink zu bringen, aber er war schon wieder verschwunden, und räumte irgendwo am anderen Ende der Tafel die Teller ab. Ich seufzte also und öffnete den Brief.
    Ich kannte die Art von Brief ziemlich gut, und eigentlich hätte mich die rasche Antwort auf meinen Bericht nicht wundern sollen. Nach den eigenartigen Vorfällen am Vormittag hatte ich umgehend Bericht erstattet, ehe ich mich im Club aufs Ohr haute. Irgendwie hatte ich aber damit gerechnet, dass man mich noch vor Ort informieren würde oder dass Wymer vielleicht wieder auftauchte. Ich hatte ihn aber seit dem Vorabend nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich genoss er seinen Urlaub.
    Der Wicket-Keeper liebte es, seine Mitarbeiter so lange wie möglich im Unklaren über seine Wünsche zu lassen. Manchmal hatte ich den Eindruck, er empfand fast so etwas wie Spaß daran, und das erlebte man selten unter den ranghöheren Offizieren Ihrer Majestät.
    Ich brach das Siegel, nahm den Umschlag heraus und begann zu lesen.
    Bm,
    erhalten hiermit neue Weisungen: Dienst nach Vorschrift bis 7. Dann Übergabe a. Ablösung, d. sich Ihnen ausweisen wird. Dann Handeln nach eigenem Ermessen.
    Bzgl. d. v. Ihnen beobachteten Ereignisse: Stimme Ihrer Bewertung zu. Sicherheit d. Palasts u. d. Exponate genießt dessen ungeachtet oberste Priorität.
    Bzgl. d. v. Arbeitern beobachteten „Spukes“: Tun Sie nichts, u. Gerüchte zu bestätigen o. zu entkräften. Hilft, Echtheit d. Exponate zu unterstreichen: Sie wissen, dass a. d. Stein ein Fluch liegt?
    D. Herr m. d. mangelnden Anstand: Die Sitte kümmert sich darum.
    D. ihn begehrende Dame: Ist uns bekannt. Lassen Sie sich nicht u. d. Finger wickeln!
    D. sie fördernde Herr: Tritt bevorzugt auf a. Roderick Bailey, 1st Baron Bailey, MOAS, Meistergrad, talentiert (?). Empfehlen Hausbesuch s. früh a. möglich, m. d. gebotenen Höflichkeit. Orden trägt Trauer (vgl. Abendzeitung). Anbei eine Reihe ihm zugeordneter Adressen.
    PS Der Kellner wird Ihnen ein Glas bringen. Trinken Sie nicht davon. Falten Sie diesen Brief u. geben Sie ihn i. d. Glas.
    PPS Weitere Briefwechsel a. diesem Weg.
    PPPS Seien Sie nicht zu hart zu Sgt. Greenwood