Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
die Pfauen in den Gärten wie die Kühe auf der Straße. Was wusste ich schon vom Rest von Kalkutta oder der Welt? Ich kannte nicht viel mehr als das hier.
Ich kannte die engen Gassen Kalighats im Herzen der Stadt, wo man die Alten und Kranken zum Sterben auf die Straße legte, und die Türme des Tempels, die sich darüber erhoben. Ich kannte die trüben Fluten des Adi Ganga, der uns mit den heiligen Wassern des Ganges verband, die Boote auf ihm und die verschworene Gemeinschaft der Kangali, der Ärmsten der Armen, die auf den Stufen an seinem Ufer um Almosen bettelten. Pilger kamen von weit her, um den großen Kalitempel zu besuchen. Manchmal gaben sie uns Geld, manchmal Kleidung. Manchmal kamen die Bediensteten des Tempels herab und verteilten Anna Prasad – den Reis, den man der Göttin darbot. Das galt als tugendhafte Tat, und so erlangten sie Punya, und wir teilten unsere Tafel mit Kali. Manchmal hatten wir beinahe genug, um zu überleben.
Ich hatte keinen Sinn für Arm oder Reich, Recht oder Unrecht. Ich hatte nie etwas anderes gesehen und war nur ein kleines Mädchen, das sein Leben lang Lumpen am Leib getragen hatte und nicht wusste, wie sich Schuhe anfühlten. Ebenso wenig wusste ich, wie es war, ohne Hunger und ohne Schmerzen zu sein. Aber das war das Leben, und so ging es allen hier.
Ich wusste nicht, woher ich kam oder wie alt ich war. Ich hatte nur das vage Gefühl, älter zu sein als viele andere Kinder. Im vergangenen Frühling hatten sie noch bei mir gesessen, dann waren sie verschwunden. Vielleicht hatten sie eine Anstellung als Rikschafahrer oder Dienstmädchen gefunden. Vielleicht hatte man sie auch fortgebracht, oder der Monsun hatte ihnen Krankheit und Tod beschert. Ich aber blieb übrig wie die letzte Dattel in einem Korb, die niemand kaufte. Ich war immer noch hier.
Ganze Familien hatten ihr Heim um diese heilige Stätte gefunden. Sie wurden als Kangali geboren und lebten, heirateten und starben auf der Straße. Einige von ihnen erinnerten sich stolz ihrer Kaste, auch wenn ihr einziger Beruf mittlerweile das Betteln war. Andere, wie ich, hatten nie einer Kaste angehört. Die meisten Familien beachteten mich nicht. Sie konnten kaum ihre eigenen Kinder ernähren, und eine Waise war ihnen nur im Weg.
Auch erkannte ich ab einem gewissen Zeitpunkt, dass meine Haut heller war als die der anderen. Manche begegneten mir deshalb mit Abneigung. Nur Dania machte das nichts.
Dania war eine Greisin, die immer an derselben Stelle der Tempelstraße saß. Sie war blind, und oft leistete ich ihr Gesellschaft, und sie erzählte mir von den Ursprüngen des Tempels und unseres Volkes. Die meisten Kangali interessierten solche Geschichten nicht, aber Dania waren sie wichtig, und ich hörte ihr gern zu, weil sie mich gut behandelte. Außerdem hatten die Jatris , die zu uns kamen, Mitleid mit der alten Blinden, und wenn die Fremden nur flüchtig hinsahen, hielten sie mich für Danias Tochter oder Enkelin und gaben ihr mehr, als sie einer Kinderlosen gegeben hätten. Ich achtete darauf, dass niemand uns bestahl, und am Abend eines guten Tages kauften wir zusammen Reis bei einem der alten Händler und teilten unser Essen. Ich glaube, sie hatte sonst niemanden. Wo sie die Nacht verbrachte, wusste ich nicht, aber manchmal blieb sie lange bei mir, in meinem Schlupfwinkel, bis ich eingeschlafen war, und ging dann davon. Sie war der einzige Mensch, der für mich einer Familie nahekam.
Gleich, wie heiß oder wie feucht es war, gleich, welche Krankheit oder Not Kalkutta gerade heimsuchte: Dies war mein Zu Hause, unter dem endlosen blauen Himmel, auf den Stufen des Kalighattempels. Vielleicht würde ich im nächsten Frühjahr noch dort sein, vielleicht auch nicht. Aber hier hatte ich meinen Platz gefunden, in der Nähe der Göttin, ebenso wie die misstrauischen Mastans , die den ganzen Tag scheinbar untätig in der Sonne saßen und dabei ihre heimlichen Geschäfte abwickelten, oder die emsigen Pandas , die vom Tempel zu uns herabkamen. Alles drehte sich um den Tempel, denn der Tempel war Leben.
Natürlich glaubte ich, ich sei die Einzige, zu der die Stimme im Tempel sprach.
Der Engländer im weißen Anzug gehörte nicht dorthin. Er fiel mir ins Auge, wie er einem der Kähne entstieg und die Planken mit seinem Schirm abklopfte, als müsse er sich selbst davon überzeugen, wirklich hier zu sein. Er war so störend im Bild der Anlegestelle, wie es eine Handvoll Schnee gewesen wäre.
Ich wusste damals noch nicht, wie
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