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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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fassen bekommen hatte, und wir auf der Schwelle des Palasts einen eigenartigen, elektrischen Tanz vollführten. Der Niederländer war skrupellos und mit überlegenen Möglichkeiten gesegnet, die ihn selbst nackt noch zu einem gefährlichen Widersacher machten. Andererseits, dachte ich, hätte er mich wahrscheinlich in diesem Augenblick auch töten können – aber er hatte es nicht getan. Oder hatte er es versucht, und es war nur etwas schiefgegangen?
    Meine Finger ertasteten eine Lampe und Schwefelhölzer auf dem Nachttisch, und ich machte Licht. Daneben stand ein Glas Wasser, und ich trank gierig. Dann sah ich mich um. Im Schein der goldenen Ölflamme erblickte ich wertvolle Tapeten, Regale mit Büchern, einen großen indischen Wandteppich. Ich atmete beruhigt durch. Ich hatte dieses Zimmer schon ein paarmal gesehen – zuletzt vor etwas über einem Jahr.
    Ich war in Baileys Haus. Oder eher, in einem von Baileys Häusern.
    Er war da gewesen.
    Ein Gedichtband lag auf dem Nachttisch. Es war Keats – eine Grußbotschaft. Hatte Bailey geahnt, dass ich von unserer ersten Begegnung träumen würde? Das war undenkbar. Doch Bailey und das Undenkbare hatten eine innige Beziehung.
    Ich lächelte und nahm das Buch zur Hand. Was immer mir widerfahren war, ich war überzeugt, dass Bailey bald zurückkehren und nach mir sehen würde. Vielleicht würde er mir dann ein paar Fragen beantworten – zum Beispiel, was mir solche Schmerzen verursachte, dass an Aufstehen kaum zu denken war.
    Meine Finger glitten über die Seiten. Viele der Gedichte kannte ich schon, aber sie hatten nichts von ihrem Zauber eingebüßt.
    Ich hatte noch nicht lange gelesen, als ich gedämpfte Geräusche im Haus hörte. Dann öffnete sich leise die Tür. Ich sah nicht auf, denn ich kannte die langsamen Schritte auf dem Teppich gut und roch das vertraute Aroma von Pfeifenrauch, das ihm anhaftete.
    Ich spürte seine Gefühle: Besorgnis, Freude und Zuversicht.
    Er blieb stehen, und ich fühlte seinen Blick auf mir. Ich fühlte mich fast wieder wie das Kind von einst. Dann murmelte er leise:
    „In seinem strahlenden Palast, wo einst
    die Pyramiden golden-hell erstarkt
    und bronzen Obeliskenschatten fiel
    Der Kuppel Dach, den Bogengang des Hofs
    ein blutend Rot nun tausendfach durchflammt
    Und all der Morgenröte Schleier weh’n
    im Zorn; als Adlerschwingen, wie kein Gott,
    kein staunend Mensch hat je geseh’n, den Ort
    mit Dunkel überzieh’n; und Rösser nah’n
    Wie nie von Gott noch staunend Mensch gehört.“
    Als er sprach, bekam ich eine wohlige Gänsehaut. Ich suchte die Stelle, und als Bailey verstummte, antwortete ich ihm:
    „In Nischen dicht gedrängt steht auf den Flur’n
    in Trauben die geflügelt’ Dienerschaft
    Verwirrt und voll der Furcht, wie Truppen, die
    wenn schwere Beben Turm und Zinne droh’n
    verzagt den Schutz der Ebene erfleh’n.“
    „Ich hatte Ihnen versprochen, dass Sie das eines Tages lesen würden“, sagte er. „Denken Sie daran, den Göttern nicht zu trauen, Miss Niobe?“
    „Ich denke immer daran“, sagte ich und fasste nach dem Shila an meinem Hals.
    Dann legte ich das Buch weg und sah ihn an: den weißen Anzug, die Brille mit dem schwarzen Glas.
    „Sie sehen keinen Tag älter aus als damals.“
    Er lächelte und setzte sich auf die Kante des Bettes.
    „Sie sehen mit jedem Tag, der vergeht, bezaubernder aus, meine Liebe.“
    Ich senkte schmunzelnd den Kopf, und eine Strähne fiel mir ins Gesicht. „Habe ich Ihnen je erzählt, wie sehr ich Montage hasse?“
    „Dann bringe ich frohe Kunde“, lächelte Bailey. „Der Montag ist vorüber.“
    „So lange?“
    Er nickte. „Seien Sie dankbar. Sie haben ganze Arbeit geleistet. Welch eine Jagd! Ich wünschte, ich könnte im Tempel davon berichten.“
    „Das lassen Sie besser“, lachte ich. Man wäre über die öffentliche Zurschaustellung unserer Fähigkeiten nicht allzu erfreut gewesen, und je weniger sie von den Einzelheiten erfuhren, desto besser. „Ich habe ein ganz schönes Aufsehen verursacht, nicht wahr? Ich vermutete mich schon hinter Schloss und Riegel.“
    „Nun, man sieht nicht alle Tage, wie eine schwarzgewandete junge Dame einen Geist durch den Hydepark jagt. Aber es ist auch nicht das Verrückteste, was sich dieser Tage in unserer schönen Stadt ereignet.“
    „Leider ist er entkommen“, sagte ich. „Ich hätte aufmerksamer sein müssen.“
    „Wir haben ihn zu spät bemerkt. Vielleicht seiner besonderen Ausstattung wegen – Sie wissen, wie

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