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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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Engländer hatte ich während dieser ganzen Zeit nicht gesehen.
    Dann war er auf einmal wieder da, setzte sich ohne ein Wort neben mich und blinzelte in die Abendsonne.
    „ Nomoskar, Sahib “, sagte ich wachsam. Ich spürte, er führte etwas im Schilde.
    „Hallo“, erwiderte er, ohne mich anzusehen.
    „Wo wart Ihr?“, erkundigte ich mich.
    „Geschäfte“, sagte er. „Die sind sehr knifflig zur Zeit, weißt du?“ Er förderte eine Pfeife zutage und begann, sie zu stopfen. Ich musterte ihn fasziniert. „Gestern noch zwingen wir ein ganzes Volk an den Webstuhl – heute tun Maschinen seine Arbeit. Wir aber machen einfach weiter wie bisher und verkaufen Opium an die Chinesen, damit uns der Tee nicht ausgeht. Der Tee!“ Er blickte zum Himmel empor. „Hast du je den Namen Bahadur Shah gehört?“
    Ich schüttelte den Kopf.
    „Solltest du aber. Er ist der Herrscher deines Landes. Der Großmogul Indiens – sogar schon der zweite dieses Namens.“
    „Ich habe nie von ihm gehört“, bekannte ich.
    „Er sitzt im Roten Fort in Delhi und schreibt Gedichte in Urdu. Angeblich sind sie nicht mal schlecht.“ Er lachte und schüttelte den Kopf, dann legte sich Traurigkeit auf sein Gesicht. „Es ist, wie du gesagt hast“, brummte er. „Alles ändert sich und bleibt doch gleich. Wir haben Indien erobert und die Herrschaft darüber an ein Imperium von Kaufmännern abgetreten. Unser König wird nicht mehr lange leben. Es stellt sich die Frage, wohin das Rad des Schicksals sich dreht, wenn wir es anstoßen.“
    Dann griff er in seine Westentasche und förderte einen schwarzen Stein zutage, so groß wie ein Wachtelei. Mir stockte der Atem.
    „Ist es das, was du suchst?“, fragte er und drehte kaum merklich den Kopf.
    Ich nickte stumm.
    So beiläufig, wie er mir zuvor die Münze gereicht hatte, steckte er mir den Shila zu. Meine Hände bebten, als ich ihn in Empfang nahm. Er brannte wie glühende Kohlen, doch ich umklammerte ihn und ließ ihn nicht los – denn er war alles, was ich mir überhaupt vorstellen konnte. Meine Sinne öffneten sich. Es war, wie nach langer Wanderung durch das Dunkel ein strahlendes Licht in Händen zu halten; zur Quelle der Wärme, dem Ursprung der Musik vorzustoßen. Ananda war in mir, füllte mich aus – und meine Welt wurde für immer eine andere.
    Der Engländer paffte eine Weile seine Pfeife. Als er wieder das Wort an mich richtete, klang es fast wie ein Vorwurf.
    „Hast du eigentlich keine Familie?“, fragte er.

    Ich erwachte.
    Einen Augenblick lang hatte ich furchtbare Angst, weil ich nicht wusste, wo ich war – erwartete mich der Alptraum Bedlams oder der Schatten jenes anderen Lebens, damals, am anderen Ende der Welt, in Kalkutta? All die Geister standen in der Dunkelheit des fremden Zimmers lebendig vor meinem Auge: Frans, verkleidet als Mediziner, der erwartungsvoll mit seiner Spritze spielt; Dania an ihrer Straßenecke, die milchigen Augen zur Sonne gekehrt, und das Geschnatter der Kinder auf den Stufen des Kalighattempels.
    Dann beruhigte ich mich. Bettstätten wie diese gab es weder in Bedlam noch in Kalkutta. Wo immer ich war, die Weichheit der Decken verhieß Sicherheit.
    Zögernd richtete ich mich auf. Ich hatte Schmerzen an Brustkorb und Hals und zwischen den Schultern, so als hätten mich zwei große Hammerköpfe gleichzeitig von vorn und hinten getroffen. Mein Mund war trocken. Stöhnend schob ich das Kissen in meinen Rücken und sah mich um.
    In der Dunkelheit machte ich die Schatten hoher Möbel und schwerer Vorhänge aus. Ein Vorhang war nicht ganz zugezogen, und ich konnte einen Zipfel Nacht mit einem schmalen Sichelmond erkennen, darunter das warme Gaslicht einer Straßenlaterne. Ich befand mich in einem reichen, typisch englischen Haus.
    Ich strengte mich an, mich zu erinnern, was am Vortage – war es der Vortag gewesen? – mit mir geschehen war, und nach und nach kehrten die Bilder zurück: Bailey, der vor meinem Kamin saß, Shah Jahan zu seinen Füßen; die Kutschfahrt nach West End; die Begegnung mit Betty, dann die unwirkliche Verfolgungsjagd durch den Hydepark. Dort begannen sich Phantasie und Wirklichkeit zu vermischen. Ich glaubte, mich an ein Kriegsschiff zu erinnern, an Vögel unter einem gläsernen Himmel, einen funkelnden Springbrunnen und einen prunkvoll geschmückten Elefanten. Etwas war dort mit mir passiert.
    Frans blickte mich an und lächelte.
    Ekel überkam mich, als ich an den Moment dachte, in dem ich Sir Malcolms nackten Mörder fast zu

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