Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)
Schon gesehen? Für einen Penny können Sie sie besichtigen.“
„Ist mir egal. Beschränk dich einfach darauf, den Ale-Nachschub nicht abreißen zu lassen.“
Da war er still und zog den Zapfhahn schweigend nach unten. Das Glas war nunmehr halb voll, und endlich dachte Dong einmal daran, dass er an diesem Fass weiter zu zapfen hatte, statt sich dem Wasser zuzuwenden.
Er hatte wohl beschlossen, mich nicht weiter zu nerven, denn nachdem er mir mein Bier hingestellt hatte, öffnete er ein kleines Metallkistchen, das unter der Theke stand und ihm wohl als Kasse diente, und begann, eine erschreckend geringe Zahl von Münzen in Pennies und Schillinge zu sortieren.
Es freute mich, dass er gemerkt hatte, wann ein strategischer Rückzug angezeigt war.
Ein Weilchen lang zählte er schweigend und ich trank schweigend mein Imperial Pale Ale, das mich – trotz des Unterschieds im Geschmack – wieder an meinen Dienst in China erinnerte.
„Ich hatte einmal einen Freund, von dem ich glaube, dass er ein wirklicher Freund war. Aber wir sind nicht im Guten auseinandergegangen“, hörte ich mich sagen.
Dong sah vom Geldzählen auf. „War er ein richtiger Freund?“, fragte er.
„Schon“, nickte ich. „William Wooster, alle nannten ihn ‚Wilberforce ‘ , weil er immer so freiheitliche und humanistische Gedanken hatte. Ich hatte ihn während meiner Zeit in Sandhurst kennengelernt, wo er zwei Trimester unter mir studierte. Ich traf ihn zufällig, als zwei Kadetten nach Dienstschluss in den Baderäumen mit ihm das Goodie-Cookie-Spiel spielen wollten.“
„Was ist das Goodie-Cookie-Spiel?“, wollte der Wirt natürlich wissen.
„Das will ich lieber nicht erläutern. Es geht um einen Keks und um männliches ... jedenfalls ist es widerlich, und ich will es dir nicht erklären. Ich kam zufällig in die Baderäume und sah den Keks auf dem Boden, bedeckt mit ... das will ich lieber nicht sagen, und Wilberforce wurde von den beiden Kadetten bedrängt, weil er sich weigerte, den Keks zu ... da reden wir lieber nicht weiter drüber. Ich habe den beiden eins auf die Nase gegeben, und dann war Ruhe.“
„Ich befürworte es, wenn Stärkere die Schwächeren beschützen“, verkündete Dong.
„Wilberforce war zwei Jahre jünger als ich und einen Kopf kleiner, aber er konnte auf sich aufpassen.“ Ich musste schmunzeln, als die Erinnerung zurückkam. „Er war ziemlich schlau und fand immer originelle Lösungen, auf die ich nie gekommen wäre. Die beiden Kadetten haben jedenfalls dafür bezahlt. Dem einen, Oscar, glaube ich, hat Wilberforce vor einem Zehn-Meilen-Marsch eine Handvoll zerriebene Juckbohnen – das ist eine Pflanze aus Indien – im linken Stiefel versteckt. Oscar durfte während des Marsches seine Stiefel nicht ausziehen. Der Kerl wäre fast verrückt geworden. Aber den anderen hat er noch besser erwischt. Ian hieß er, ein Schotte mit rollendem ‚R ‘ . Dem hat er vor dem Unterricht einen Korken unter die Sitzfläche des Stuhles gepinnt.“
„Ja und?“, fragte Dong.
„Nun, den Korken hat er vorher angezündet. Nun brennt aber ein Korken nicht, er schwelt nur.“ Ich lachte. „Die Sitzfläche ist aus Holz, und der Korken schwelt so langsam vor sich hin. Der Stuhl wird immer heißer. Aber ganz langsam. So langsam, dass der, der darauf sitzt, es gar nicht merkt. Am Ende ist der Stuhl heiß wie eine Herdplatte. Ich war selbst leider nicht dabei, weil ich ein anderer Jahrgang war, aber Wilberforce hat mir erzählt, wie der Dozent Ian fragte, warum er so schwitze, und Ian wusste es nicht. Aber sein Arsch war gekocht wie ein Gammon-Steak.“
Ich nahm lachend einen Schluck Bier. „Wilberforce konnte sehr gut auf sich selbst aufpassen. Dafür hat er mich nicht gebraucht. Abgesehen davon war er der zweite Sohn des Barons Berwick, und mit dem Adel wird selbst in Sandhurst vorsichtiger umgegangen als mit uns gemeinen Menschen.“
„Ich verstehe“, sagte Dong. „Mir scheint, Sie mochten den Mann.“
Ich nickte. „Ja, wir haben so ziemlich alles miteinander geteilt, was Männer teilen können, wenn sie nicht auf Männer stehen.“
„Aber dennoch haben Sie sich mit ihm überworfen?“
Ich nickte wieder.
„Wie?“, wollte der Wirt wissen.
Ich zuckte erneut die Achseln. „Wilberforce sagte: ‚Ich hoffe, du bist zufrieden, dass du gewonnen hast. ‘ Dann ist er gegangen.“
Dongs Neugier war geweckt. „Was hat er damit gemeint?“ Er stellte eine Tasse mit Pflaumenwein vor mir auf den Tisch. „Der geht
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