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Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition)

Titel: Der Kristallpalast: Ein Steampunk-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Plaschka , Matthias Mösch , Alexander Flory
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klumpigen Masse vereint, und einen Moment dachte ich, de Boers Hirn hätte sich über die gesamte Themse ausgebreitet. In der Masse trieben die verrottenden Überreste von Tieren, die in dem tödlichen Schleim verendet waren, die Bäuche aufgequollen von Faulgas. Gestrandet darin lag ein alter Fischkutter. Dämpfe von Schwefelwasserstoff hingen schwer über der breiigen Brühe und hatten das Bleiweiß der Planken schwarz gefärbt. Ich atmete flach, aus Angst, diese Teufelsküche könnte mir die Lungen verbrennen.
    Ich sah mich um. Absurde Holzkonstruktionen säumten die baufälligen Wohnhäuser mit ihren verkrusteten Fundamenten, an denen die Exkremente ganzer Generationen hafteten. Treppen und Leitern führten die Ziegelsteinwände zu blinden Fenstern empor; vielerorts waren sie zusammengestürzt. Es schien undenkbar, dass Menschen an einem solchen Ort lebten, doch hoch oben in der faulen Brise flatterte die Wäsche der erbärmlichen Bewohner dieser Welt. Es schien alles wie ein Alptraum.
    Behutsam öffnete ich eine von de Boers Konserven mit dem Taschenmesser. Der Inhalt entpuppte sich als eine Art Hühnersuppe mit blassen, glitschigen Fleischstücken, an denen ich rasch die Freude verlor. Da hörte ich ein Jaulen und sah auf.
    Der Hund war wieder da. Es war ein hässlicher, räudiger Straßenköter, dem das Fell in Stücken ausfiel. Er hinkte auf drei Beinen und hatte nur ein Ohr. Wo das andere hätte sein sollen, wuchs ein rosiger, praller Tumor aus seinem Kopf. Er war ein Scheusal, eine durch und durch erbärmliche Monstrosität. Er kam vorsichtig näher und studierte mich und die Dose in meinen Händen. Anscheinend glaubte er, ich würde ihm etwas abgeben.
    Ich verlor die Nerven. „Verschwinde!“, schrie ich. „Hau ab!“ Ich warf das Taschenmesser nach ihm, und er japste kurz auf, ließ sich von dem zierlichen Geschoss aber nicht aus der Ruhe bringen. Da stand ich auf und war schon im Begriff, ihm mit einer meiner Dosen oder notfalls mit der bloßen Hand den Schädel zu zertrümmern, als ein kleiner Junge aus einer der Baracken trat und auf uns zukam. Der Hund sah den Jungen, bellte laut und lief zu ihm hin. Fast rechnete ich damit, dass er ihn anfallen würde, aber stattdessen leckte er ihn ab, und der Bub kraulte ihn liebevoll hinter seinem gesunden Ohr.
    Fassungslos verfolgte ich das Schauspiel. Dieser Junge und dieser Hund an diesem Ort schienen mir unwahrscheinlicher als alles, was ich heute erlebt hatte.
    Ich stand auf, nahm mein Taschenmesser wieder an mich und näherte mich dem Kleinen und seinem Vieh. Beide sahen mich misstrauisch an.
    „Eine Dose Huhn für euch, wenn ihr mir verratet, wo ich mich waschen kann und eine Droschke oder einen Dampfer ins Westend kriege“, sagte ich.

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    I ch starrte auf den Boden meines Glases und versuchte herauszufinden, woher mein Unmut rührte. Vielleicht hatte es mit der langen Nacht und der morgendlichen Begegnung zu tun, die mich mit einer Menge offener Fragen und einer ziemlichen Wut im Bauch zurückgelassen hatte. Geheimbünde bedeuteten Schwierigkeiten, und überdrehte Frauenzimmer umso mehr.
    Vielleicht lag es auch an der Trostlosigkeit der Gegend, in der ich mich befand. Whitechapel war auf nüchternen Magen nicht ratsam, und je später die Stunde, desto unerfreulicher der Anblick. Manchmal vergaß man, dass diese Welt, in der sich achtköpfige Familien winzige Zimmer teilten und ihre Toten einfach auf die Straße warfen, überhaupt existierte. In der die Leute das Wasser tranken, in das sie auch ihre Geschäfte verrichteten. In der es von Krankheiten und Läusen wimmelte und man an jeder Ecke zweifelhafte Vergnügungen kaufen konnte. Es gab billigen Schnaps, nicht viel teureres Opium, und für wenig Geld mehr bekam man auch ein Kind oder einen gedungenen Mörder. Es war das Unterste vom Untersten, die Kehrseite der Stadt, die Heimat des Abschaums – und ich mittendrin.
    Vielleicht lag es aber auch daran, dass dies bereits mein viertes Pint Ale war und ich mich dennoch nicht mal angetrunken fühlte. Einer der Nachteile meines Talents: Mein Körper baute den Alkohol fast ebenso schnell wieder ab, wie ich ihn ihm zuführte. Mein Geist wurde also wesentlich langsamer leichter als meine Geldbörse. Vermutlich war es das, was mich ärgerte.
    Oder es war etwas anderes. Aber darüber wollte ich nicht weiter nachdenken.
    Ich sah mich in dem Pub um. Eigentlich war es kein Pub, sondern eine heruntergekommene chinesische Pension.

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