Der Küss des schwarzen Falken
hatte. Außerdem war es nicht ratsam, ihn das wissen zu lassen, denn womöglich kamen ihm dann Zweifel, ob er sie in den Canyon mitnehmen sollte, wenn sie so wenig Erfahrung selbst in solchen Dingen wie einem Lagerfeuer hatte.
Grace konnte sich gut vorstellen, was Rand insgeheim über sie dachte: dass sie ein verwöhntes reiches Mädchen aus der Großstadt sei, das sich aus purer Langeweile in solche Abenteuer wie diese stürzte. Dass sie tatsächlich reich war, konnte und wollte sie auch nicht bestreiten. Ihrem Vater gehörte eine der größten Stahlgesellschaften der USA. Sie hatte die besten Schulen besucht und einen Universitätsabschluss in Betriebswirtschaft. Aber was sie sicher nicht hatte, war Langeweile. Besonders seitdem sie die Stiftung gegründet hatte, wünschte sie sich oft genug, dass der Tag mehr als vierundzwanzig Stunden hätte.
Zufrieden betrachtete sie das Feuer. Worüber sollte sie sich Sorgen machen? Rand mochte denken, was er wollte. Sie würde sich nicht von dem abbringen lassen, was sie sich vorgenommen hatte.
Hoch und steil ragten die Wände aus rotem Fels und hellem Sandstein hinter ihnen auf, eine beeindruckende Kulisse. Weiter unten schlängelte sich träge ein Bach durch eine Gruppe verkrüppelter Eichen. Die Abendluft, in die sich nun langsam der Geruch des brennenden Holzes mischte, war erfüllt von dem Gequake der Frösche. Grace ließ den Blick schweifen, über den weiten, immer dunkler werdenden Himmel, die zerklüftete Linie des Massivs, das in ihn hineinzuragen schien, und war bewegt von all dem, allem anderen entrückt, überwältigt von einer Größe, vor der sie sich klein und bedeutungslos vorkam.
“Das kann einen schon umhauen, was?”
Grace schrak zusammen. Sie war dermaßen vertieft in den Anblick dieser großartigen Landschaft gewesen, dass sie Rand nicht hatte kommen hören. Sie nickte und atmete tief durch, bevor sie antwortete: “Ja, es ist gewaltig. Hier könnte man alles vergessen, was man an täglichen Sorgen mit sich herumschleppt, Arbeit, Geld …”
“Na, Ihre Geldsorgen möchte ich haben”, bemerkte Rand trocken.
Grace ging zunächst auf seinen Spott nicht ein. Sie fuhr fort, die Felsenwände und den Himmel zu betrachten. Sie wollte den Zauber dieses Moments nicht zerstören. Gleichzeitig hatte sie jedoch das Bedürfnis, sich zu unterhalten. Auf der Fahrt hatten sie die meiste Zeit geschwiegen, und auch während der wenigen kurzen Pausen war Rand ziemlich einsilbig gewesen, sodass sie es schließlich aufgegeben hatte, ein Gespräch anzufangen.
“Ich kann auch nichts dafür, dass ich in eine reiche Familie hineingeboren wurde”, sagte sie und ging nun doch auf seine Bemerkung ein. “Wie sieht es mit Ihnen aus, Rand? An welchen Platz hat man Sie gestellt?”
Er schwieg. Grace bereute schon, ihn gefragt zu haben, und fürchtete, eine unsichtbare Grenze überschritten zu haben, die er um sich herum gezogen hatte. Ein leichter warmer Wind erhob sich und trug den Geruch von Rauch und Wacholdersträuchern zu ihnen herüber. Das trockene Holz knackte im Feuer, und das Quaken der Frösche ebbte langsam ab. Es war, als warte auch die Natur auf eine Antwort von Rand.
Als er auf ihre Frage dann doch einging, merkte Grace, dass sie vor Anspannung den Atem angehalten hatte.
“Ich bin ein Halbblut. Mein Vater war Komantsche”, begann er mit leiser Stimme zu erzählen. “Meine Mutter kam aus Europa. Sie war Waliserin. Sie haben sich an der Universität von Texas kennengelernt. Meine Mutter war dort als Austauschstudentin, und mein Vater besuchte Seminare in Landwirtschaft, um sich in Pferdezucht weiterzubilden. Meine Mutter hat oft erzählt, wie sie sich das erste Mal gesehen hatten. Sie saßen in der Cafeteria, und mein Vater sah sie unverwandt an. Schließlich stand sie auf, ging zu ihm und sagte: ‘Du hörst auf der Stelle auf, mich so anzustarren, oder du gibst mir einen Kaffee aus.’ Zwei Monate später haben sie geheiratet. Mein Vater kaufte eine Ranch mit einer kleinen Pferdezucht in der Stadt, in der er aufgewachsen war, und sie ließen sich dort nieder.”
Rand schwieg eine Weile. “Das Problem war mein Onkel, ein Bruder meines Vaters”, fuhr er dann fort. “Der machte ihm die heftigsten Vorwürfe und behauptete, mein Vater habe sein indianisches Erbe verraten und seinen Stamm beleidigt, weil er eine Weiße geheiratet hatte. Ich erinnere mich noch. Einmal, als ich acht war, begegneten die beiden sich in der Stadt. Mein Vater wollte ein paar
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