Der Küss des schwarzen Falken
Grace musste ihn zweimal ansprechen, bevor er merkte, dass sie mit ihm redete.
“Rand! Was ist los? Was haben Sie?”
“Was soll sein? Nichts.”
Grace betrachtete aufmerksam sein Gesicht. “Das glaube ich Ihnen nicht. Sie sehen ganz blass aus.”
“Mit mir ist nichts. Alles in Ordnung.” Er wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn und atmete ein paarmal tief durch. “Ruhen Sie sich noch ein bisschen aus. Ein paar Stunden haben wir noch zu fahren. Nach unserer nächsten Pause können Sie mal das Steuer übernehmen. Ich hab jetzt keine Lust zu sprechen.”
Damit war die Diskussion beendet, und er konnte sich wieder aufs Fahren konzentrieren. Rand hatte einige Übung darin, sich zu verschließen. Grace drehte sich von ihm weg und lehnte den Kopf gegen das Seitenfenster. Rand tat es inzwischen leid, dass er so schroff gewesen war. Er sah zu ihr hinüber. Am liebsten hätte er ihr die Hand auf die Schulter gelegt und sich entschuldigt. Aber er tat es nicht. Er konnte es einfach nicht.
Außerdem war es wirklich besser, einen gewissen Abstand zu wahren. Er hatte ihr schon reichlich viel über sich erzählt – mehr als allen anderen. Offenbar hatte sie eine besondere Gabe, ihm Dinge zu entlocken, die er normalerweise nicht um alles in der Welt preisgegeben hätte, und Gefühle in ihm zu wecken, die er seit langem unterdrückt hatte. Er wollte aber nicht, dass sie das tat. Vielleicht wollte er etwas von ihr. Aber wenn, dann nur ‘das eine’ und bestimmt nicht mehr
In einem Ort namens Grandview gingen sie in
Roger Bob’s Rib House,
um etwas zu essen. Während Rand die Speisekarte studierte, widmete Grace ihre ganze Aufmerksamkeit den mehr oder weniger bedeutsamen Informationen, die auf den Papiersets standen, die an jedem Platz ausgelegt waren.
“Wussten Sie, dass es hier ganz in der Nähe die am besten erhaltenen Dinosaurierspuren in ganz Texas gibt?”, fragte sie.
“Ich hatte bisher keine Ahnung, dass es in Texas überhaupt Dinosaurier gab”, gab Rand unumwunden zu.
“Ja. Es soll hier Entenschnabelsaurier gegeben haben”, fuhr Grace begeistert fort.
“Guck mal an”, meinte er nur, ohne von der Speisekarte aufzublicken. Schon während der letzten fünf Stunden hatte er kaum ein Wort gesprochen. Nachdem er ihr ziemlich brüsk mitgeteilt hatte, dass er keine Lust habe, sich zu unterhalten, hatte sie alle weiteren Versuche, ein Gespräch anzufangen, eingestellt und ihn in Ruhe gelassen.
Jetzt aber machten sie Pause, und das beharrliche Schweigen, das nun schon Stunden dauerte, begann Grace auf die Nerven zu gehen. Also ließ sie nicht locker. “Das müssen ganz schöne Brocken gewesen sein – zehn Meter lang, vier Meter hoch, außerdem waren sie Fleischfresser.”
“Dann wollen wir mal hoffen, dass sie nicht schon vor uns bestellt haben”, bemerkte Rand trocken und klappte die Speisekarte zu.
Er spricht. Immerhin ein Anfang, dachte sie erleichtert. Da sage noch einer, Frauen seien schwierig. Wer das behauptet hatte, kannte Rand Sloan nicht.
Vor einer knappen Stunde waren sie vom Interstate Highway abgebogen und hatten hier ein wenig abseits ein kleines Motel gefunden, das auch die Möglichkeit bot, die Pferde zu versorgen. Bei der Gelegenheit hatte Grace die Tiere zum ersten Mal in voller Größe gesehen. Einen kräftigen grauscheckigen Wallach und eine zarte, ebenfalls gescheckte Stute mit so großen Augen, wie sie sie noch bei keinem Pferd je gesehen hatte. Rand hatte offenbar an alles gedacht: Trinkwasser, Konserven, Schlafsäcke, sogar einen Cowboyhut von Mary hatte er für sie mitgenommen. Diese perfekte Organisation war bewundernswert. Dass sie nicht von ungefähr kam, weil Rand zu den rastlosen Männern gehörte, die ihre aufgebauten Zelte immer wieder bald abbrachen, war vermutlich die andere Seite der Medaille.
Sie nippte an der Margarita, die sie sich bestellt hatte, und leckte sich danach mit der Zungenspitze das Salz von den Lippen. Sie brauchte etwas zur Entspannung. Eine achtstündige Autofahrt war immer anstrengend. Aber acht Stunden Seite an Seite mit einer solch geballten Ladung an Männlichkeit, wie Rand sie bot – einen makellosen Körper, den Duft seiner Haut, den Blick auf sein markantes Profil und die schön geformten, großen Hände auf dem Lenkrad, das war zu viel für eine Frau. Die jetzige Pause hatte sie also dringend nötig. Nicht mehr lange, und sie hätte nicht mehr gewusst, ob sie sich im nächsten Moment aus dem Wagen oder auf Rand werfen
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