Der Küss des schwarzen Falken
Warum machen Sie uns in der Zwischenzeit nicht etwas zu essen warm?” Damit drehte er sich um und ging fort.
Grace empfand das wie eine Abweisung. Mit etwas unsicheren Schritten ging sie zum Pferdeanhänger, um nachzusehen, was sich dort an Essbarem finden ließ.
Zwei Stunden später saß Rand mit Grace am Feuer und lehnte sich, einen Becher in der Hand, an den Felsen. In kleinen Schlucken trank er von dem starken, heißen Kaffee, den Grace ihnen gemacht hatte. Dies waren die Stunden des Tages, die er am liebsten mochte. Die Sonne war schon eine Weile untergegangen, und millionenfach blinkten die Sterne vom nachtschwarzen Himmel. Schon Hunderte von Malen hatte er im Freien unter dem Sternenzelt geschlafen. Aber jedes Mal wieder erfüllte es ihn mit einem eigenartigen Hochgefühl. Wenn er irgendwo Frieden finden konnte, dann an einem Platz wie diesem unter dem weiten Himmel von Texas, möglichst weit weg von Autos und Menschen, Häusern und Straßen.
Hier könnte man alles vergessen …, hatte Grace gesagt.
Ja, dachte er, oder sich an alles erinnern.
‘Rand Blackhawk, lass deinen Bruder in Ruhe, oder ich schick dich raus, und du bekommst heute nichts mehr zu essen …’
‘Hey, Rand, ich weiß, wo es Blindschleichen gibt. Lass uns eine fangen und Lizzie ins Bett legen …’
‘Wie gefällt dir dein neues Schwesterchen, Rand? Ist die Kleine nicht zauberhaft?’
Rand wusste wieder, wie es roch, wenn seine Mutter die Küche geschrubbt hatte. Er hörte wieder das Poltern auf der Veranda, wenn sein Vater die Stiefel auszog, bevor er ins Haus kam, und hatte wieder den strengen Blick seiner Mutter vor sich, wenn sie darüber wachte, dass sie beim Tischgebet ihre Köpfe über die gefalteten Hände beugten.
Diese Erinnerungen waren alles, was ihm von seiner Familie geblieben war. Nichts hatte er nach jener Unglücksnacht mitnehmen können außer den blutbespritzten Sachen, die er am Leibe trug. Und bald hatte er neue Kleider gehabt, ein neues Zuhause, einen neuen Namen, als habe alles Vorherige niemals existiert. Der alte Schmerz saß immer noch fest in seiner Brust. Es hatte Zeiten gegeben, da hatte er sich vorgestellt, nach Wolf River zu gehen und seinen Onkel ausfindig zu machen, ihn zur Rede zu stellen und womöglich mehr als nur das. Aber er hatte es nie getan. Was hätte es auch geändert? Seine Eltern hätte es nicht wieder lebendig gemacht. Und Seth und Lizzie … Aber was seine Geschwister betraf, hatte sich nun etwas geändert.
Sobald er diesen Job hier hinter sich gebracht hatte, würde er sich Klarheit darüber verschaffen, was er mit der Nachricht über Seth und Lizzie anfangen sollte. Er würde eine Weile Ruhe brauchen, um darüber nachdenken zu können. Seit jener verhängnisvollen Nacht hatte es nichts gegeben, das ihm Angst eingejagt hätte. Aber jetzt, da diese Entscheidungen anlagen, fürchtete er sich davor, sie zu treffen.
Ein lautes Knacken im Feuer brachte ihn wieder in die Gegenwart zurück. Grace’ Freudenschrei fiel ihm ein, den sie ausgestoßen hatte, als das Feuer endlich brannte, und er musste innerlich grinsen. Es war sonnenklar, dass sie nie zuvor Feuer gemacht hatte. Trotzdem musste er ihr zugestehen, dass sie eine patente, tatkräftige Frau war. Und verdammt sexy.
Rand hatte es sich zum Grundsatz gemacht, nie etwas mit einer Frau anzufangen, für die er arbeitete. Das wäre ein grundlegender Fehler, weil die Betreffende Anspruch auf mehr erheben könnte als auf das, wofür sie ihn bezahlte. Oder es barg das Risiko, dass sie anfing, von gehäkelten Küchengardinen und Geranientöpfen zu träumen, die sie mit ihm teilen wollte. Darauf konnte er gut verzichten. Er liebte sein Leben, so wie er es führte, und hatte nicht vor, etwas daran zu ändern.
Rand nahm einen Stein, warf ihn in die Flammen und beobachtete, wie die Funken nach allen Seiten in die Dunkelheit stoben. Warum war das mit Grace so anders? Warum fiel es ihm bei ihr so schwer wie nie, sich unter Kontrolle zu halten? Dass sie eine so große Anziehung auf ihn ausübte, war nicht weiter verwunderlich. Sie war eine attraktive Frau. Umgekehrt schien er ihr auch nicht gleichgültig zu sein. Aber er wäre ein Narr, daraus mehr machen zu wollen.
Obendrein wäre er ein Betrüger. Alles Mögliche konnte man ihm nachsagen, aber das nicht. Er war immer ehrlich gewesen – gerade Frauen gegenüber. In den wenigen kurzen Beziehungen, die er gehabt hatte, hatte er nie einen Zweifel daran gelassen, was er wollte und was er nicht
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