Der Küss des schwarzen Falken
Vorräte einkaufen. Sie standen sich einen Augenblick gegenüber. Ich hatte nie zuvor so viel Hass in den Augen eines Menschen gesehen wie damals in denen meines Onkels. Zu dem Zeitpunkt wusste ich noch gar nicht, dass er ein Verwandter von uns war. Meine Mutter hat es mir später erzählt.”
Eine traurige Geschichte, dachte Grace. “Und haben Sie ihn später wiedergesehen?”, fragte sie.
“Einmal”, antwortete Rand tonlos, “in der Nacht, in der meine Eltern starben. Da hat er mich genauso hasserfüllt angesehen wie damals meinen Vater. Er hat kein Wort mit mir gesprochen. Er hat nur etwas zu der Frau gesagt, die bei ihm war, ist dann zu seinem Auto gegangen und weggefahren. Die Frau nahm mich in ihrem Haus auf, und zwei Tage später kam ich zu den Sloans, die mich adoptierten.”
Grace konnte nicht fassen, dass jemand ein Kind, das gerade seine Eltern verloren hatte, so behandeln konnte. “Gab es denn niemanden sonst in der Familie, der sich hätte um Sie kümmern können?”
“Da war nur noch ein näherer Verwandter, aber der war schon vorher gestorben. Meine Eltern führten ein ziemlich zurückgezogenes Leben.”
Auch wenn Rand ihn zu verbergen suchte, sie sah den Schmerz in seinen Augen. “Und bei der Beerdigung Ihrer Eltern? War da auch niemand?”
“So weit ich weiß, gab es keine Beerdigung. Mein Onkel hat den Leichnam meines Vaters zurück ins Reservat geholt. Was mit meiner Mutter geschehen ist, weiß ich nicht.” Rand unterbrach sich und runzelte die Stirn. “Hey, was ist denn jetzt los?”, fragte er und strich ihr vorsichtig mit dem Daumen eine Träne von der Wange.
“Es … es tut mir so leid um Ihre Eltern … und dass ein kleiner Junge solche Sachen durchmachen musste”, stammelte Grace, der gar nicht bewusst geworden war, dass sie angefangen hatte zu weinen. “Es muss schrecklich für Sie gewesen sein.”
Er streichelte ihre Wange. “Es ist lange her, und ich hab’s überstanden.”
Bloß ‘überstanden’ ist nicht gerade viel, dachte sie. Was für eine behütete Kindheit sie doch gehabt hatte und was für liebevolle Eltern. Fast schämte sie sich dafür, dass sie das immer als selbstverständlich hingenommen hatte. Sie legte ihre Wange in seine Hand. Seine Hand war kräftig und rau von der harten Arbeit. Es war angenehm, sie zu fühlen. Grace war klar, dass sie beide dabei waren, ein Stück ihrer Zurückhaltung und Vorsicht aufzugeben. Vielleicht lag es an der langen, anstrengenden Fahrt. Vielleicht auch an dem überwältigenden Panorama des Canyons. Wahrscheinlich kam beides zusammen.
Trotzdem sollte die flüchtige Berührung seiner Hand ihren Puls nicht derart zum Rasen bringen. Woher kam diese plötzliche Ahnung, dass diesem Mann ein Blick in ihre Augen genügte, um ihre Gedanken und Wünsche zu erraten? Kein Mann hatte jemals eine solche Anziehungskraft auf sie ausgeübt. Sie konnte sich nicht dagegen wehren – sie wollte ihn. Aber noch mehr beunruhigte sie der Gedanke, dass sie es nicht vor ihm verbergen konnte.
Das Streicheln seiner Hand erregte und tröstete sie gleichzeitig. Seine harten Gesichtszüge wirkten weicher als sonst, die Falten um seine Mundwinkel weniger scharf. Was würde geschehen, wenn sie seine Hand, die ihr Gesicht liebkoste, küsste; wenn sie die Arme um ihn legte und sich an seine breite Brust lehnte?
Grace schloss die Augen. Die Luft um sie herum war schwer. Der Boden unter ihren Füßen schien sich zu bewegen. Sie meinte ihren dumpfen Herzschlag zu hören und war überzeugt, dass Rand ihn auch hörte. Sie fühlte seinen Blick auf sich ruhen.
Was wäre schon dabei, wenn sie sich für eine Weile fallen ließen? Sie waren zwei erwachsene Menschen, die sich zueinander hingezogen fühlten. Niemand würde sie hier in der Wildnis stören, niemand bräuchte davon zu wissen. Ja, für den Augenblick mochte es leicht sein. Das Schwierige käme danach, wenn sie nach einigen, vielleicht sehr schönen Momenten, wieder auf dem Boden der harten Tatsachen landeten. Denn Grace war sich zunehmend sicher, dass es für sie mehr sein würde als reiner Sex, wenn sie mit Rand schlief. Und dass der Kummer danach vorprogrammiert wäre.
Die Pferde scharrten mit den Hufen, und Rand ließ seine Hand sinken. Fast hätte Grace dagegen protestiert, und sie musste sich auf die Lippen beißen, um ihm nicht zu verraten, dass sie mehr davon wollte. Viel mehr.
“Ich muss die Pferde fertig machen”, sagte Rand mit Nachdruck. “Im Hänger steht ein Karton mit Konserven.
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