Der Kugelfaenger
Stelle steht, wo er sie zurückgelassen hat. Er macht ein paar Schritte von dem wartenden Taxi weg und geht schließlich zu der Stelle, an der Evelyn vor ein paar Minuten noch gestanden hat. Nur der Rucksack steht verlassen dort. Er dreht sich suchend ein paar Mal um sich selbst, kann sie aber nirgends entdecken. Er öffnet den Rucksack und wühlt darin herum. Alles da. Bis auf sein Handy. Er nimmt ihn und geht damit zur nächsten Telefonzelle.
„Evelyn ist weg“, sagt er zu einem müden Frank Greyson.
„Was meinen Sie mit ‚weg’?“, gähnt der ins Telefon.
„Entführt“, sagt Tom mit bewundernswerter Ruhe. „Sie wurde entführt, mein Lieber.“
***
Nach einer fast dreiviertelstündigen Fahrt, hält das Taxi vor dem St.-George’s-Krankenhaus. Der Fremde bezahlt den Fahrer, steigt aus und hält Evelyn die Tür auf.
„Steigen Sie aus“, fordert er sie auf.
Nur zögernd gehorcht sie ihm. Sie kann sich keinen Reim drauf machen, was sie hier soll.
Er fasst sie am Arm und überquert mit ihr die Straße. Er hat sein Messer in seiner Jackentasche verschwinden lassen. Anscheinend rechnet er nicht damit, dass sie jederzeit abhauen könnte. Das hat sie auch nicht vor. Zumindest nicht jetzt. Ihre Neugierde ist endgültig entfacht.
Sie betreten das Foyer des Krankenhauses. Er nickt der Frau hinter der Glasscheibe des Empfangs beim Vorbeigehen kurz zu. Sie lächelt. Er scheint nicht das erste Mal hier zu sein. Man kennt ihn.
Er geht mit ihr auf die Fahrstühle zu. Sie warten, bis zwei Pfleger einen Mann mit dem Krankenbett herausgefahren haben, dann betreten sie einen der Aufzüge. Zwei weißgewandete Ärzte kommen ihnen nach, kurz bevor sich die Türen schließen. Sie sehen abgespannt und müde aus und jeder der beiden hat einen Stapel Unterlagen und einen Becher Kaffee in der Hand. Sie beachten den Fremden und Evelyn nicht und beginnen sich über einen Patienten zu unterhalten.
Evelyn dreht langsam ihren Kopf und sieht ihren sonderbaren Entführer nun das erste Mal wirklich an. Er hat ein angenehmes Gesicht, nur der Ausdruck darauf ist ein wenig angespannt. Und sie meint eine Spur Besorgnis darin ausmachen zu können. Er ist Ende dreißig, mit ordentlich gekämmten Haaren, einem leichten Ansatz zum Bierbauch und grünlichen Augen. An ihm ist nichts Kriminelles, stellt sie fest. Trotzdem bleibt sie auf der Hut. Sie weiß, was er mit einem Huhn anstellen kann. Sie senkt ihren Kopf wieder und wartet. Er hat nicht gemerkt, dass sie ihn gemustert hat.
Im dritten Stock steigen sie aus und lassen die Ärzte weiterfahren. Der Fremde schiebt sie vor sich her durch einen weiten Gang des Krankenhauses, bis sie an einer großen, doppelten Glastüre ankommen. Der Zugang zur Intensivstation. Evelyn bleibt abrupt stehen. Sie hat keine Ahnung, was sie hier eigentlich zu suchen hat. Sie wünscht sich immer mehr, sie würde in der nächsten Sekunde aufwachen und all das wäre nur einer dieser verdammten Träume, die man nicht träumen will.
Er hat schon eine Hand an der Tür, als er stehen bleibt und sich zu ihr umdreht. „Kommen Sie“, sagt er.
Sie rührt sich nicht, sondern sieht ihn nur an.
„Kommen Sie mit“, sagt er noch einmal und fasst sie am Arm. Evelyn setzt sich widerstrebend wieder in Bewegung. Er führt sie an Zimmern vorbei, in die man durch eine riesige Glasscheibe hineinsehen kann. In allen liegen Menschen, die an alle möglichen Apparate angeschlossen sind. Sonst wirkt alles wie ausgestorben. Kein Wunder. Es ist nach zehn Uhr abends.
Der Fremde bleibt vor einer dieser Scheiben stehen und blickt schon fast ehrfürchtig in das Zimmer, das dahinter liegt. Evelyn bleibt unschlüssig neben ihm stehen.
„Schauen Sie“, sagt er und weist mit seinem Kopf in das Zimmer. „Schauen Sie genau hin, Miss Williams.“
Es ist schwer zu erkennen, dass das, was da hinter der Scheibe in dem Krankenbett liegt, ein Mensch sein soll. Es sieht eher so aus, als würde nur noch ein Gerippe zwischen den Laken stecken. Dieser Mensch dort hat kraftloses, rötliches Haar, eine graue, unnatürliche Gesichtsfarbe, eingefallene Wangen und tief in den Höhlen liegende Augen. Die Rippen des Brustkorbes zeichnen sich gut sichtbar an der dünnen Haut ab. Unter dem T-Shirt ragen die stöckchendünnen Arme heraus und die extrem mageren Hände liegen neben dem zerbrechlich wirkenden Körper. Man sieht wirklich jeden einzelnen Knochen dieses Körpers. Man könnte sie problemlos zählen, ohne dafür auch nur einen Röntgenapparat zu
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