Der Kugelfaenger
benötigen.
Es ist ein Mädchen. Es ist noch jung. Sehr jung.
Evelyn hat so etwas noch nicht gesehen. Sie hatte noch nie einen so ausgezehrten Körper vor sich. Am liebsten würde sie ihre Augen abwenden, aber dieser Anblick hält sie auf grausame und unerklärliche Weise gefangen.
„Was …“, stottert sie verwirrt und blickt den Mann neben ihr Hilfe suchend an. Sie weiß nicht, was sie sagen soll. Der Anblick des schlafenden Mädchens irritiert sie zutiefst.
Eine Weile steht er schweigend neben ihr, dann sagt er plötzlich und ohne den Blick von dem Mädchen hinter der Glasscheibe abzuwenden: „Das ist meine Tochter. Sie ist elf.“
Evelyn hat noch immer keine Ahnung, was sie hier zu suchen hat oder was der Kerl eigentlich von ihr will.
„Was fehlt ihr?“, bringt sie schließlich heraus.
Er wendet ihr das Gesicht zu und mustert sie kurz. „Das sollten Sie doch wohl am Besten wissen“, sagt er dann in vernichtendem Tonfall. Er blickt wieder auf seine schlafende Tochter. „Sie hat extremes Untergewicht. Anorexie“, sagt er dann nach einiger Zeit.
Das leuchtet Evelyn ein. Jetzt hat sie auch eine Ahnung, warum sie hier ist. Das beruhigt sie aber nicht im Geringsten.
„Das tut mir … leid“, sagt sie, unsicher, wie sie sonst reagieren sollte.
Er dreht ihr ruckartig das Gesicht zu, auf dem jetzt ein leicht irrsinniger Ausdruck liegt. Ein paar Sekunden starrt er sie an, als wollte er sie am liebsten schlagen. Dann beißt er die Zähne aufeinander und wendet angewidert sein Gesicht von ihr ab.
Evelyn fühlt sich zunehmend unwohler. Sie schätzt den Fremden im Moment als ziemlich unberechenbar ein. Sie geht blitzschnell ihre Möglichkeiten durch – und findet keine. Der Mann ist um gut einen Kopf größer als sie und bringt wohl mehr als doppelt so viel wie sie auf die Waage. Körperlich ist sie ihm völlig unterlegen. Außerdem hat er ein scharfes Küchenmesser in der Manteltasche, das er jederzeit hervorholen kann. Und was hat sie? Nichts. Überhaupt nichts, mit dem sie sich verteidigen könnte. Keine Stöckelschuhe, die man notfalls in eine sichere Waffe verwandeln könnte, noch sonst etwas. Nur … ihr Blick fällt auf die Stelle neben ihr. Dort wurde an der Wand ein kleiner Wagen mit allen möglichen medizinischen Dingen darauf achtlos abgestellt. Das ist die einzige Möglichkeit. Sie streckt unauffällig ihren Arm danach aus und greift sich ein Skalpell, das sie griffbereit in ihrem Jackenärmel verschwinden lässt und atmet ein wenig auf. Sicher ist sicher.
„Nein, das tut mir wirklich leid“, sagt sie dann noch einmal. „Ich kann verstehen, dass Sie-“
Aus heiterem Himmel packt er sie im Genick und drückt sie ein gutes Stückchen weiter nach vorne, sodass sie mit der Nase fast die Glasscheibe berührt und zischt an ihrem Ohr: „Sehen Sie sich meine Tochter genau an. Sehen Sie hin, verdammt noch mal!“ Er verpasst ihr einen Stoß in die Rippen. „Sehen Sie sie an. Was sehen Sie, Ms. Williams?“
Evelyn kann nicht antworten. Ihr ist vor Angst die Kehle wie zugeschnürt. Sie kann sich daran erinnern, wie die Therapie bei Spondylitis ankylosans aussieht. Sie weiß sogar welche Symptome bei Dermatomyositis auftreten können. Aber ihr will einfach nicht einfallen, was man bei einer Stichverletzung macht.
„Sehen Sie diese dünnen Arme? Und dieses abgemagerte Gesicht?“
Sie versucht, seiner kräftigen Hand stand zu halten und überlegt, wie sie ihn mit dem Skalpell abwehren könnte. Sie hat es in der falschen Hand.
„Sehen Sie das alles? Sehen Sie es?“
Und Evelyn sieht es. Sie sieht das kleine Mädchen in dem großen Bett, das hier so verdammt fehl am Platz wirkt. Sie sieht das kleine Kind vor ihren Augen, das nicht hier liegen sollte, sondern zu Hause in seinem Bett. Ein elfjähriges Kind, das nicht so abgemagert sein sollte. Ein Anblick, an dem sie die Schuld trägt.
Plötzlich ertönt hinter ihnen das Geräusch einer zufallenden Tür. Der Mann lässt sie so schnell wieder los, wie er sie gepackt hat und Evelyn macht taumelnd ein paar Schritte zur Seite, umklammert dabei aber immer noch das Skalpell. Ihr Nacken schmerzt.
Dann ertönen geschäftige Schritte und eine etwas ältere Krankenschwester taucht auf. Als sie Evelyns Entführer erblickt, breitet sich auf ihrem Gesicht ein warmes Lächeln aus. „Ach, Sie sind immer noch hier?“, sagt die Schwester freundlich. „Es ist wirklich bewundernswert, wie Sie für Ihre Tochter Tag und Nacht da sind.“ Dann runzelt sie leicht
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